Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/23
Zum Abschluss ihrer Zeit im Damenstift kreisen Carolas Gedanken noch einmal um das Gefühl, das ihr Leben prägt: gefangen zu sein in einer Welt, in der sie nicht zu Hause ist.
Antoines Träume von einem Neuanfang in der Südsee, einem ganz anderen Leben an einem ganz anderen Ort, hallten noch lange in Carola nach. Immer wieder stellte sie sich die Frage, ob es möglich wäre, sich dem Toben des Kriegsgottes einfach zu entziehen, indem man sich in eine andere Weltregion verdrückte.
Wäre es feige, das zu tun? Oder stellte sich ihr ein solcher Schritt nur deshalb als feige dar, weil sie zu feige war, ihn zu gehen?
Andererseits: Konnte man sich einfach so aus der Geschichte davonschleichen – um sich später, wenn sich die Wogen geglättet hatten, wieder zur Hintertür hereinzuschleichen? Lief man so nicht vor den Aufgaben davon, die einem das eigene Leben stellte?
Aber vielleicht, sagte sich Carola, folgten solche Fragen ja auch nur wieder den Spuren, die andere für sie getreten hatten. Wagte sie es womöglich einfach nicht, die vorgegebenen Bahnen zu verlassen, und führte deshalb ein Leben, das andere für sie entworfen hatten?
Hatte Gershom, ihr jüdischer Bekannter, denn nicht gesagt, die eigentliche Schuld des Menschen bestünde darin, jederzeit über die Möglichkeit zur Umkehr zu verfügen, diese aber nicht zu nutzen? Und was konnte diesem Gebot besser entsprechen, als an einem ganz anderen Ort, in einer ganz anderen Welt ein völlig neues Leben zu beginnen?
Sie setzte sich an das Fenster ihrer Kammer und schaute hinaus in den Stiftsgarten. Nur noch wenige Tage, dann würde ihr Leben als Stiftsfräulein der Vergangenheit angehören. Eigentlich ein beglückender Gedanke – wenn sie nur wüsste, wie es danach weitergehen sollte!
In gewisser Weise, dachte sie, schmerzte sie jetzt wohl die Wunde der Freiheit …
Wie durch einen dichten Vorhang streifte sie die Erinnerung, dass sie anfangs sogar froh gewesen war, in das Stiftsgefängnis ziehen zu dürfen – und dass sie dann, schon kurz nach ihrem Einzug in das Damenstift, ihre Rettung darin gesehen hatte, aus dem Stiftsgefängnis in das Gefängnis der Ehe überzusiedeln. Erst jetzt stand ihr klar vor Augen, dass kein Gefängnis der Welt ihr je das würde schenken können, wonach sie sich im Innersten sehnte: die Freiheit.
Sie hatte nun also eine Vorstellung davon, was es hieß, frei zu sein. Wie sie aber leben sollte, um dauerhaft frei sein zu können, wusste sie noch immer nicht.
So lebte sie für den Augenblick in einer Art Zwischenwelt – in einem Fegefeuer der Ungewissheit, wo jeder Tag eine neue Überraschung bereithalten konnte, dafür aber alle Wege im Ungefähren endeten.
So keimte in ihnen allen die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt, die sie am Ende dieser im Ungefähren endenden Wege in die Arme nehmen würde – jener anderen Welt, die Lina in ihren Gedichten beschworen hatte, die Antoine sich in der Südsee erträumte und in der Jonathan sich verlaufen hatte bei seiner Suche nach Eleonore.
Woher es nur kam, dieses Ungenügen an der Welt, in der sie lebten?
Das, was sie alle einte, war, überlegte Carola, vielleicht etwas, das es eigentlich gar nicht geben konnte: Fremde zu sein in der eigenen Zeit, Waisen des Lebens, ausgesetzt auf den Klippen eines Ufers, das sie von sich wies wie ein Windstoß die geflügelten Kinder des Löwenzahns.
Podcast, Episode 23: Nachdem ihre weibliche Identität aufgeflogen ist, landet Annie als „abnorme“ Frau in der Psychiatrie. Dort trifft sie auf jemanden, der ihr seltsam vertraut vorkommt. In einer neuen Maskerade schmiedet sie Ausbruchs- und Zukunftspläne.

Bild: Eugène Auguste François Deuilly (1860 – 1933): Frau, zu den Sternen hinaufträumend (Rêve aux étoiles; um 1900); Wikimedia commons