Südseeträume

Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/22

Angesichts ihres bevorstehenden Auszugs aus dem Damenstift unterhält sich Carola mit dem Offizier und Südseereisenden Antoine über ihre Zukunftspläne. Dieser schlägt eine gemeinsame Reise in die Südsee vor (Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens).

Nachdem sie eine Zeit lang schweigend durch den Stiftsgarten spaziert waren, schlug Antoine unvermittelt vor: „Weißt du was? Wir lassen einfach alles stehen und liegen und fangen gemeinsam ein neues Leben in der Südsee an. – Na, wie wäre das?“
Der Vorschlag kam so unerwartet für Carola, dass sie zunächst nichts darauf erwidern konnte. Nach einer Weile fragte sie: „Würdest du denn wirklich dein Land in dieser Situation im Stich lassen?“
Antoine verzog das Gesicht. „Mein Land!“ rief er höhnisch aus. „Als wäre die Armee mein Land! Wenn ich dabei helfen sollte, die Ideen der Revolution in unserem Land umzusetzen, würde ich mich dieser Aufgabe sicher nicht verweigern. Aber darum geht es ja gar nicht! Für diesen Buonaparte, der jetzt die Macht ergriffen hat, ist die Revolution doch nur ein Vorwand für die Eroberung fremder Länder.“
„Dabei werden aber auch die Ideen der Revolution über die Grenzen getragen“, hielt Carola dagegen.
„Das mag ja sein“, räumte er ein. „Aber was gibt uns denn das Recht, dafür Tausende fremder Menschen umzubringen oder die eigenen Leute in den Tod zu schicken? Dabei setzt man doch stillschweigend voraus, dass für diese Menschen die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit weniger Gültigkeit besitzen als für andere. Oder dass sie ein bloßes Mittel sind, um diese Ideale in die Tat umzusetzen. Ein solches Denken missachtet aber eine der zentralen Errungenschaften der Revolution: nämlich die Einsicht, dass kein Menschenleben weniger Wert hat als ein anderes.“
„Wenn du so darüber denkst, dürftest du dich aber auch nicht einfach in die Südsee verdrücken“, beharrte Carola. „Dann müsstest du dir Gesinnungsgenossen suchen, mit denen zusammen du diesen Buonaparte unschädlich machen könntest.“
Antoine machte eine wegwerfende Handbewegung: „Ach was! Das würde gar nichts ändern. Weißt du, ich denke, dass die Bedeutung einzelner Personen für den Lauf der Geschichte maßlos überschätzt wird. Wir sehen nur den Einzelnen, wie er an der Spitze des Staates steht und scheinbar alle Macht in Händen hält – nicht aber die Triebkräfte, die ihn dorthin gebracht haben. Die sind natürlich auch von Menschen gemacht – aber eben nicht von einem Einzelnen zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern von unendlich vielen Menschen, im Verlauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten, im immerwährenden Dialog der Generationen.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich sehe es so: Wen die Triebkräfte der Geschichte an die Spitze des Staates spülen, der bringt diese Kräfte lediglich in besonderem Maße in seiner Person zum Ausdruck. Also haben doch wohl eher sie ihn geformt als umgekehrt.“
Auf meinen skeptischen Blick hin erläuterte er: „Nimm zum Beispiel Robespierre. Er hat zwar in perfekter Weise die erste Phase der Revolution – den nackten Volkszorn – verkörpert. Hätte dies an seiner Stelle aber jemand anders getan, so hätte das den Verlauf der Revolution wohl kaum entscheidend verändert. Ebenso steht nun Buonaparte für eine neue Phase der Revolution, in der diese zur Herrscherin über Europa verklärt wird – und sich damit selbst ad absurdum führt. Sollte er stürzen, so fände sich zweifellos ein anderer, der dieser Entwicklung Ausdruck verleihen würde.“
Ein kurzes Schweigen trat ein. Ein für Carola völlig neuer Gedanke formte sich in ihr. Es dauerte eine Weile, bis es ihr gelang, ihn in Worte zu fassen.
„Und wenn wir, statt nach äußerer Wärme zu suchen, innere Wärme spenden würden?“ fragte sie schließlich unbeholfen. „Wenn wir unsere Reise denen widmen würden, die unter die Räder des großen Kriegswagens gekommen sind?“
Da Antoine sie nur fragend ansah, setzte sie hinzu: „Was ich meine, ist: Wir könnten uns doch auch zum Dienst in den Lazaretten melden und so – wenn wir die Welt schon nicht verändern können – wenigstens das Leid anderer lindern helfen.“
Antoine seufzte. „Dir stünde dieser Weg vielleicht offen. Mir aber müsstest du erst ein Bein abhacken, damit man mir das erlauben würde. Einer wie ich darf erst dann beim Heilen helfen, wenn er für das Gegenteil nicht mehr zu gebrauchen ist.“

Podcast, Episode 22: Kurz vor ihrem Auszug aus dem Damenstift rekapituliert Carola noch einmal die Ereignisse der letzten Wochen. Vor allem Linas Schicksal hat einen Schatten auf ihr Leben geworfen – aber auch von Jonathan erhält sie beunruhigende Nachrichten.

Bild: Joseph Vernet (1714 – 1789): Ruhige See in einem Mittelmeerhafen (1770; Ausschnitt) Los Angeles, Getty Center (Wikimedia commons)

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..