Der Berg des Todes

Annie wird mit ihrer Einheit das erste Mal in eine Schlacht verwickelt. Als sie danach auf eine Lichtung zuläuft, erblickt sie etwas, das sich in ihre Erinnerung als „Berg des Todes“ eingräbt.

Gestützt auf einen abgebrochenen Ast, humpelte ich einer Lichtung entgegen, die ich von ferne sah, angetrieben von nichts als der Gewohnheit, darin in einem dichten Wald ein lohnendes Ziel zu sehen.
Gerade als ich die Lichtung erreichte, brach die Sonne durch die Wolken. Ich konnte es kaum fassen, dass der Schnee auf den Bäumen noch wie früher glitzerte, als das Licht durch ihr Geäst fiel; dass es überhaupt noch eine Sonne gab und Bäume, in denen die Vögel von Zweig zu Zweig hüpften.
Eine Taube flog geradewegs auf einen toten Soldaten zu und landete auf seiner zerrissenen Uniform. Offenbar strahlte der Körper noch etwas Wärme ab, und so klappte sie ihre Beinchen nach innen und nahm den Rest Leben, der in ihm verblieben war, in sich auf. Ich musste mich rasch abwenden, um nicht den Verstand zu verlieren.
Auf einmal hörte ich in meinem Rücken das knirschende Geräusch von Schritten im Schnee. Sie waren noch weiter entfernt, aber es war doch deutlich zu erkennen, dass es sich um eine Gruppe von Personen handelte, die sich unaufhörlich in meine Richtung bewegten. Ich erschrak, wie man sonst wohl erschrecken mag, wenn man nachts im Wald das Geheul eines Wolfsrudels vernimmt.
Erst als ich bemerkte, dass die Männer, anscheinend ein paar Bauern aus der Gegend, sich in einem bayerischen Dialekt miteinander unterhielten, beruhigte ich mich – allerdings nur, um gleich darauf umso heftiger zusammenzuzucken. Denn die Männer trugen auf ihren Schultern tote Soldaten, und dazu unterhielten sie sich über das Wetter, über den vielen Schnee und das Glück, dass gerade jetzt wieder die Sonne herausgekommen sei. Man hätte meinen können, sie transportierten keine Toten durch den Wald, sondern irgendwelche Waren, mit denen sie auf dem Markt ihres Sprengels ein gutes Geschäft zu machen hofften.
Nach allem, was ich gesehen hatte, hätte mich dieser Anblick eigentlich kalt lassen müssen. Allerdings war nun ja die Betäubung durch das Kampfgetümmel von mir abgefallen, die mich alles wie durch einen dichten Nebel hatte wahrnehmen lassen. Außerdem war es ja nicht nur die Art, wie die Toten transportiert wurden, die mich erschreckte. Echtes Entsetzen packte mich erst, als ich sah, wohin die Männer ihre Last brachten.
Mit langsamen, aber festen Schritten bewegten sie sich auf einen großen Haufen zu. Erst bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass er sich aus lauter leblosen, vollständig entkleideten Körpern zusammensetzte. Warum ich ihn erst jetzt entdeckte, weiß ich selbst nicht mehr. Vielleicht war ich vorher von der Sonne geblendet gewesen, oder ich habe nicht in seine Richtung geschaut. Möglicherweise habe ich ihn aber auch einfach deshalb nicht wahrgenommen, weil ich mit so etwas nicht gerechnet hatte. Etwas, dessen Existenz man sich nicht vorstellen kann, erkennt man schließlich auch dann nicht, wenn man direkt davor steht.
An ihrem Ziel angelangt, luden die Männer ihre Last ab und fingen an, den Toten die Kleider auszuziehen. Diese stopften sie in eigens dafür mitgebrachte Säcke, von denen einer bereits bis oben hin mit Beutestücken angefüllt war. Ich wusste zwar, dass in den Körpern kein Leben mehr war und dass es deshalb ganz egal war, ob sie von Kleidern bedeckt waren oder nicht. Mein Gefühl war jedoch stärker als alle Logik: Ich konnte den Anblick der nackten Leiber im Schnee nicht ertragen.
So ging ich dem entgegen, was mich abstieß, beseelt von dem Verlangen, die Männer für ihr Tun zur Rede zu stellen. Ich hatte sie schon fast erreicht, da blieb ich plötzlich erschrocken stehen: Mir war, als hätte sich in dem Haufen etwas bewegt.
Ich hielt dies zunächst für eine optische Täuschung und dachte, der Wind oder die Lichtreflexe hätten meine Sinne genarrt. Kurz darauf aber war es ganz deutlich zu erkennen: Ein Körper in dem Haufen regte sich noch! Unverkennbar zuckte seine Hand unter den anderen Leibern hervor. In ihrer Gier hatten die Männer einen Lebenden seiner Kleider beraubt.
Ich beschleunigte meinen humpelnden Schritt, so gut es ging, und versuchte mich den Männern schon von Weitem bemerkbar zu machen. Diese sahen daraufhin zwar kurz gelangweilt von ihrem Tun auf, fuhren aber gleich darauf unbeirrt damit fort. Erst als ich in Hörweite von ihnen war, wandten sie mir ihre Aufmerksamkeit zu.
„Habt ihr keine Augen im Kopf?“ rief ich ihnen zu. „Der Soldat da lebt doch noch!“
„Ach was!“ entgegnete mir einer der Männer achselzuckend. „Der verreckt doch eh bald! Ohne Kleider hat er’s nur schneller überstanden!“
Das war zu viel für mich. Wie eine notdürftig verbundene Wunde platzte meine Verzweiflung auf und brach sich Bahn. Ich schrie, nein: es brüllte aus mir, wie ich mich noch nie hatte brüllen hören, ich tobte, ich gab Laute von mir, die mir völlig fremd waren – und darüber erschraken die Männer so, dass sie taten, was ich von ihnen verlangte.
Wusste ich es schon, oder bemerkte ich erst jetzt, um wen es sich bei dem Lebenden auf dem Berg des Todes handelte? Nein, ich glaube, ich habe ihn nicht gleich erkannt. Nacktheit wirkt wie eine Maskerade, wenn man jemanden nur bekleidet kennt, umso mehr, wenn der nackte Leib durch Verletzungen entstellt ist.
So fiel mir, wenn ich mich recht erinnere, auch zuerst die klaffende Wunde im Unterleib auf, als die Männer den lebenden Körper unter den Toten herauszogen. Erst danach konnte ich den Körper einer Person zuordnen. Erst da erkannte ich, dass es sich dabei um niemand anderen als Sepp handelte – ausgerechnet um ihn, meinen einzigen echten Freund in der Truppe. Er war bewusstlos, und dass er bei der Kälte in diesem Zustand überlebt hatte, verdankte er wohl nur der Tatsache, dass er nicht ganz zuoberst auf dem Haufen gelegen hatte, wo der eisige Wind sein Lebenslicht sicher längst ausgepustet hätte.
Nun verlor ich endgültig die Fassung. Ich ruhte nicht eher, als bis die Männer mich und Sepp in eine Hütte gebracht hatten, wo wir uns aufwärmen und unsere Wunden notdürftig versorgt werden konnten. Kurz darauf fiel ich in Ohnmacht.

Podcast, Episode 20: Die Tage vor den Kampfhandlungen sind durch winterliches Wetter und mangelnden Proviant von starken Entbehrungen gekennzeichnet. Als Annies Einheit dann in einen Hinterhalt gerät, hat sie dem Feind kaum etwas entgegenzusetzen.

Bild: Wassilij Wereschtschagin (1842 – 1904): Apotheose des Krieges (1871); Moskau, Tretjakow-Galerie (Wikimedia commons)

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