Die Heilung des Unvollkommenen

Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/18

Lina hat eine krisenhafte Zuspitzung ihrer Krankheit wie durch ein Wunder überlebt. Das lenkt die Gedanken ihrer Schwester Carola auf die metaphysische Sphäre.

Carola konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal wirklich gebetet hatte – also nicht bloß irgendwelche Formeln heruntergeleiert und dabei die Hände um des äußeren Scheins willen aneinandergelegt, sondern das Gespräch gesucht hatte mit dem Unfassbar-Umfassenden. An diesem Tag aber, als der Tod bereits den Schatten seines dunklen Mantels über ihre Schwester geworfen hatte, hatte sie unwillkürlich die Hände zum Gebet verschränkt.
Gesprochen – im Sinne des Ausformulierens von Gedanken – hatte sie zwar auch dabei nicht. Dennoch hatte sie ein Gefühl von Zwiesprache gehabt.
Es war wohl, überlegte sie, ein Dialog jenseits aller Worte gewesen, ein geistiger Strom, der sie mit dem Unendlichen verbunden hatte. Die Sprache war dabei allenfalls von untergeordneter Bedeutung gewesen. Was sie beruhigt hatte, war ohnehin eher dieses Gefühl des geschlossenen Kreises gewesen, der Heilung des Unvollkommenen, das ihr ihre vor der Stirn zusammengeführten Hände vermittelt hatten.
Vielleicht, sagte sie sich, war das ja auch das Entscheidende am Gebet: diese Empfindung, von einer unsichtbaren Macht gehalten zu werden – wobei es gar keine Rolle spielte, ob es diese Macht wirklich gab, weil ein Mensch sie – gäbe es sie – ohnehin mit seinem begrenzten Verstand nicht fassen könnte. Und doch hatte sie an diesem Tag für einen Augenblick geglaubt, das Wirken dieser Macht zu spüren.
Dass Lina die krisenhafte Zuspitzung ihrer Krankheit überlebt hatte, kam Carola jedenfalls wie ein Wunder vor. Natürlich – „Wunder“ war ein großes Wort. Sie scheute sich, es in den Mund zu nehmen. Und doch schien es ihr den Kern dessen zu treffen, was sie erlebt hatte. Schrak sie also nur deshalb vor der Benutzung des Wortes zurück, weil sie sich als Kind ihrer rationalen Zeit den Glauben an Wunder verbat?
Sie seufzte. Manchmal wäre sie froh, sie könnte ihr auf den Wogen dieser aufgewühlten Zeit dahintreibendes Schiff einfach in den Hafen eines Glaubens lenken, der Wunder als etwas ganz Normales hinzunehmen erlaubte. Leider war dieser Hafen aber auf keiner Karte verzeichnet. Er war nur zu erreichen, indem man mitten in stürmischer See die Augen schloss und darauf vertraute, dass seine Tore sich vor einem auftun würden.
In gewisser Weise setzte der Glaube damit das voraus, was durch ihn gewonnen werden sollte. Für einen solchen Salto mortale aber fehlte ihr der Mut.

Podcast, Episode 18: Während Linas Krankheit sich krisenhaft zuspitzt, wird Annies Leben auf ganz andere Weise bedroht: Ihr Regiment rückt immer näher an die Kriegshandlungen heran.

Bild: Maria Klass-Kazanowska (1857 – 1898): Gebet (Wikimedia commons)

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..