Ein entehrendes Bestrafungsritual

Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/13

Ein Deserteur wird zur Strafe des Spießrutenlaufens verurteilt. Annie berichtet ihrer Freundin Carola von der Qual, die es ihr bereitet hat, sich an der Ausführung der Strafe beteiligen zu müssen (Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens).

Bericht von Annie über einen Fall von Desertion in ihrer Garnison:

Frühmorgens vernahm ich plötzlich mehrere Kanonenschüsse. Diejenigen, die schon länger bei der Armee waren, wussten sogleich, was das zu bedeuten hatten: Sie zeigten an, dass ein Soldat sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte. Umgehend wurde eine Patrouille in Marsch gesetzt, um ihn zurückzuholen.

Tatsächlich wurde der Flüchtige noch am selben Abend in die Garnison zurückgebracht. Allerdings hatte nicht die nach ihm ausgeschickte Patrouille ihn aufgestöbert, sondern ein Bauer, bei dem er hatte untertauchen wollen.

Der Deserteur wurde vor ein Standgericht gestellt und – wie nicht anders zu erwarten – zum Spießrutenlaufen verurteilt. Da der Unglückliche aus meinem Regiment stammte, musste ich mich an der Ausführung der Strafe beteiligen.

Immerhin wird das Spießrutenlaufen heute nicht mehr so streng gehandhabt wird wie früher. So wurde dem Delinquenten gestattet, sich mit einem Halstuch im Nacken gegen die Rutenschläge zu schützen. Außerdem durfte er sein Hemd über dem Hosengurt zu einem kleinen Polster für die Nieren aufbauschen. Auch wurden wir anderen, die wir zu Scharfrichtern bestimmt waren, nicht gleich – wie es eigentlich noch immer Vorschrift ist – mit einem Stockhieb bestraft, wenn wir nicht fest genug zuschlugen.

Trotz all dieser Erleichterungen war der Mann, der die von seinen Kameraden gebildete Gasse durchschreiten musste, aber eben doch halbnackt. Schon dies allein war – angesichts der Bedeutung, die man hier der Korrektheit der Kleidung beimisst – äußerst entwürdigend für ihn.

Darüber hinaus gab es unter denen, welche die Gasse bildeten, durchaus auch solche, die ihre Ruten mit voller Wucht auf den Rücken des Verurteilten sausen ließen. Womöglich wollten sie gegenüber ihren Vorgesetzten ihre Zuverlässigkeit unter Beweis stellen, oder sie fanden Gefallen an der Macht, die ihnen als Erfüllungsgehilfen des Gerichts zukam. Manche waren aber wohl auch froh über die Gelegenheit, die beständig eingeübte Gewaltanwendung endlich einmal am lebenden Objekt erproben zu können.

Einem Teil meiner Kameraden bereitete es aber, wie ich leider zugeben muss, auch Freude, einem anderen wehtun zu können. Diese Kameraden, die eigentlich keine sind, waren sichtlich froh, ihre  Lust an der Gewalt im Schutz der Menge frei ausleben zu können. Sie schlugen so heftig zu, dass dem Wehrlosen das Blut bald in hellen Rinnsalen über den Rücken lief.

Ich war eine(r) der Letzten in der Reihe. So war der Delinquent schon sichtlich schwach auf den Beinen, als er auf mich zulief. Dennoch konnte ich es mir nicht erlauben, den Stock gar nicht gegen ihn zu erheben. Nicht nur, dass mir dies wohl doch als schwere Form von Befehlsverweigerung ausgelegt worden wäre. Auch vor den Kameraden wäre ich durch ein solches Verhalten als Schwächling gebrandmarkt gewesen. Denn obwohl niemand die Strafe als solche gutgeheißen hätte, schienen die meisten doch das Zufügen und Ertragen von Schmerz als Zeichen von Stärke anzusehen.

Dies allein hätte mich gewiss nicht sonderlich erschüttert. Schließlich handelte es sich bei meinen Nebenleuten ja um Soldaten! Es war jedoch noch etwas anderes, was sich in ihren Augen spiegelte. Ich meinte, eine Art von Blutgier darin zu erkennen, wie sie bei wilden Tieren durch die Verwundung des Opfers geweckt wird. Dieser Anblick hat mich zutiefst verunsichert. Es musste schrecklich sein, einer solchen Horde von Raubtieren ausgeliefert zu sein. Fast genauso schrecklich war es aber, sich als Teil von ihnen fühlen zu müssen.

Am Ende der Gasse brach der Delinquent zusammen. Niemand half ihm auf – auch ich nicht. Meine Hände zitterten, aber ich war unfähig, mich zu rühren. Erst durch den Befehl des Korporals, eine Trage zu holen, um den Verwundeten ins Lazarett zu bringen, löste ich mich aus meiner Erstarrung.

Podcast, Episode 13: Die blutige Seite des Garnisonsalltags offenbart sich für Annie auch in dem Blutdurst des Ungeziefers, dessen Verbreitung fast schon epidemische Ausmaße angenommen hat.

Bild: Daniel Nikolaus Chodowiecki (1726 – 1801): Vorstellung einiger öffent­lichen Strafen: b) Das ehrliche Gassenlaufen und die unehrliche Stäupung (1776); aus: J. B. Basedows Elementarwerk mit den Kupfertafeln Chodowie­ckis u.a. Kritische Bearbeitung in drei Bänden, herausgegeben von Theodor Fritzsch, Band 3. Leipzig 1909: Wiegand (Wikimedia commons)

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