Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/11
In einem Brief hat Carola ihrer Freundin Annie gegenüber ihren Bedenken über deren Entschluss, als „Weißer Anton“ in die Armee einzutreten, geäußert. In ihrer Antwort an Carola verteidigt Annie ihre Entscheidung (Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens).
Disputapolis, in den Wolken
Werte Wortgefechterin!
Endlich hat mich Dein Brief erreicht! Von dem Inhalt war ich nicht überrascht, wohl aber von der Art und Weise, wie Du ihn mir dargelegt hast. Sag mal, bist Du etwa in Deinem Stift zur Branntweintrinkerin geworden? (Verstehen könnt‘ ich’s ja …) Dein Brief klingt jedenfalls so konfus, dass man meinen möchte, Du hättest eine ganze Kompanie von Worten verschlungen und diese dann wahllos auf das Papier erbrochen.
Dass Du meine Entscheidung nicht gutheißt, habe ich natürlich begriffen – das war mir aber auch vorher schon klar! Deine Argumente fand ich allerdings so verworren, dass ich mich darin gefühlt habe wie in dem Bornheimer Irrgarten, in dem wir uns einmal verlaufen haben. Weißt Du noch? – Die Sonne stand so hoch am Himmel, dass uns selbst die Hecken kaum Schutz boten. Wir wären fast verdurstet, wenn Du nicht in Deiner kühlen Art unserem Geschick getrotzt hättest und systematisch die Gänge abgeschritten wärest, bis wir schließlich doch noch zum Ausgang fanden.
Eben diese Systematik vermisse ich in Deinem Brief. Um mich darin zurechtzufinden, habe ich mir deshalb erlaubt, Deine Argumente ein wenig zu ordnen. So fällt es mir leichter, auf sie einzugehen. Wie Du siehst, zeigt die militärische Erziehung schon erste Wirkungen bei mir.
Sag selbst: Versöhnt Dich das nicht ein wenig mit meiner Entscheidung? Schließlich kommen so doch endlich Ordnung und Disziplin in mein Leben – also genau die Dinge, die Du immer darin vermisst hast!
Also dann: Tätärätä, Bum-Bum-Bum-Bum (geschwindester Trommelwirbel) – auf zum grandiosesten Wortgefecht, das die Welt je gesehen hat: Es duellieren sich die weise Carola, und – ja, meine Damen und Herren, Sie haben richtig gesehen – niemand anderes als: der Weiße Anton!
1. Frage: Wer ist stärker: das Militär oder der Weiße Anton?
Du behauptest, ich sei zu schwach für das Räderwerk, zu dem ich mir Zugang verschafft habe. Anstatt von mir aus dem Takt gebracht zu werden, zwinge dieses mich dazu, nach seinem Rhythmus zu marschieren. Dadurch würde ich zum Werkzeug in fremden Händen, zu einer Mordwaffe, die für jeden beliebigen Zweck eingesetzt werden könne.
Dazu fragt Dich der Weiße Anton: Wie kommst Du denn darauf, dass ich das Räderwerk „aus dem Takt bringen“ möchte? Momentan bin ich eher daran interessiert, dass der Takt möglichst störungsfrei bleibt, damit wir den Feind aus dem Land jagen können!
Aber selbst wenn wir einmal davon ausgehen, dass ich mit manchem hier nicht einverstanden bin und es gerne verändern würde: Wird es denn dann besser, indem man, wie Du, einfach auf der Zuschauertribüne sitzen bleibt?
Dadurch, dass Du von vornherein vor der scheinbaren Übermacht dessen kapitulierst, was Du fürchtest, verhilfst Du ihm doch erst zu dieser kentaurenhaften Stärke! Ich bevorzuge dagegen die Taktik des trojanischen Pferdes, das sich dem Gegner anpasst, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
2. Frage: Ist das Militär ein Zeichen von Stärke oder ein Zeichen von Schwäche?
Du beliebst die Ansicht zu vertreten, dass das Militär ein einziges Zeichen von Schwäche sei: Nur derjenige, dem die Worte ausgingen, greife zur Waffe. Wahre Veränderung erfolge durch den Geist, nicht durch Gewalt.
Die Französische Revolution erklärst Du vor diesem Hintergrund rundheraus für überflüssig. Hätten die Menschen auf Denker wie Voltaire und Montesquieu gehört, wäre die Veränderung friedlich und nachhaltiger erfolgt, als es durch die revolutionären Gewalteruptionen der Fall sei. Wenn ich schon als Mann agieren wolle, solle ich daher besser ein Buch veröffentlichen, anstatt mich an der Neigung des männlichen Geschlechts, Konflikte gewaltsam auszutragen und sie eben dadurch immer weiter anzufeuern, zu orientieren.
Der Weiße Anton möchte seine geschätzte Diskussionspartnerin an dieser Stelle auf einen Widerspruch in ihrer Argumentation hinweisen: Einerseits unterstellt sie den Männern, zu einer gewalttätigen Austragung ihrer Konflikte zu neigen. Andererseits verweist sie aber auch auf Männer, um ihre These von der größeren Wirkmächtigkeit des Geistes zu untermauern. Also traut sie Männern doch offenbar beides zu: Geist undGewalt.
Schlussfolgerung des Weißen Antons: Die Gewalt ist in Wahrheit nur ein extremer Ausdruck des Willens zur Tat, zur Umsetzung dessen, was der Geist zuvor im Reich der Phantasie erprobt hat.
Wenn Du mir also rätst, mich der Anwendung von Gewalt zu enthalten, so geht dies von der unbewiesenen Behauptung aus, Frauen seien unfähig zur wirklichen Tat und könnten sich diese nur erträumen. Damit gibst Du hier nur wieder Deinem Hang zur Bequemlichkeit nach, der Dir einflüstert, die Gestaltung des Weltgeschehens der anderen Hälfte des Geschlechts – der männlichen – zu überlassen und die Ergebnisse hinterher von Deinem Lesesessel aus zu kritisieren.
3. Frage: Kann eine Frau, indem sie als Mann auftritt, an Macht und Einfluss gewinnen?
Du versuchst mir einzureden, dass ich durch meine Geschlechtsumwandlung den besseren Teil von mir aufgegeben hätte. Deiner Meinung nach kapituliert eine Frau, die wie ein Mann handeln möchte, damit nur vor der Unfähigkeit der Männer, der Welt ein menschlicheres Antlitz zu geben.
Du behauptest, dass man gerade als Frau – wenn auch nur langfristig – tiefgreifende Veränderungen bewirken könne. Denn durch seinen Ausschluss von der Macht sei das weibliche Geschlecht unberührt von den unmenschlichen Strukturen, denen die gegenwärtigen Herrscher ihre Machtposition verdanken. Dadurch verfüge es auch über die Möglichkeit, diese Strukturen zu durchschauen und entsprechend umzugestalten.
Der Weiße Anton geruht hierzu Folgendes anzumerken: Ich habe keineswegs vor, meine Weiblichkeit aufzugeben, nur weil ich in den Kleidern eines Mannes herumlaufe. Durch meine Verkleidung werde ich vielmehr in den Stand versetzt, zusätzlich zu den Einflussmöglichkeiten des weiblichen auch die des männlichen Geschlechts zu nutzen.
Indem Du darauf beharrst, Frauen sollten auf „weibliche“ Weise agieren, wie auch Männer an die Grenzen gebunden seien, die ihr Geschlecht ihnen setze, argumentierst Du ganz auf dem Boden jener Strukturen, die Du selbst als unmenschlich kritisierst. Die engen Vorstellungen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“, die Du als selbstverständlich hinnimmst, sind doch gerade ein Teil des Jochs, das auf uns lastet!
Entstehen männliche Gewalt und weiblicher Weltschmerz nicht vielleicht gerade durch diese Engstirnigkeit, die es Männern wie Frauen verbietet, die – willkürlich gezogenen! – Grenzen zum anderen Geschlecht in ihrem eigenen Tun und Denken zu überschreiten?
4. Frage: Gegen wen oder was richtet sich die Gewaltanwendung konkret?
Du scheinst anzunehmen, dass ich nur ein kleines Abenteuer gesucht habe und das Schlachtfeld für eine Spielwiese halte. Aus diesem Grund erläuterst Du mir mit staunenswerter Ausführlichkeit, wer derzeit wen in Europa nicht leiden kann und auch bereit ist, aufgrund seiner Abneigung besagtem Gegner das Köpfchen vom Rumpf zu trennen. Dabei übermittelst Du mir auch die – ehrlich gesagt – nicht sehr neue Neuigkeit, dass die österreichischen Truppen, in deren Dienst ich stehe, gegen die Franzosen in Stellung gebracht würden, und fragst mich, ob ich diese wirklich bekämpfen wolle.
Zwar räumst Du ein, dass die französische Armee in den letzten Jahren viel Leid über andere Völker gebracht habe. Gleichzeitig geruhst Du aber Deiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass dieselbe Armee auch die Keime jener Ideale über die Grenzen trage, denen die Französische Revolution zum Sieg verholfen habe und die langfristig auch anderen Völkern zu einem freieren und menschenwürdigeren Leben verhelfen könnten.
Der Weiße Anton möchte an dieser Stelle auf einen weiteren Widerspruch in der Argumentation seiner Mit-Wortgefechterin hinweisen. Einerseits behauptet sie, wahre Veränderung könne nur durch den Geist bewirkt werden. Andererseits soll es nun aber möglich sein, ein fremdes Land gewaltsam zu besetzen und es dann gewissermaßen zu seinem Glück zu zwingen. Wie dieses beschaffen ist, bestimmt dabei der Gewaltherrscher.
Da kann sich der Weiße Anton nur wundern. Soll es etwa dem Frieden und der Freiheit dienen, wenn man in eine fremde Stadt einfällt, widerspenstige Einwohner tötet und dann die Überlebenden für den Schaden aufkommen lässt – wobei man sich auch noch in deren Wohnungen einquartiert, um den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen? Und kann man die Freiheit denn überhaupt von oben herab befehlen, als handle es sich bei ihr um eine neue Art, die Felder zu bestellen?
Nein, meine Liebe, hier muss Dir der Weiße Anton ganz entschieden widersprechen: Wer anderen die Freiheit wie eine Medizin verordnen will, weiß selbst nicht, was Freiheit ist. Was ein solcher Arzt austeilt, sind Fesseln, die er in zynischer Weise als „Freiheit“ bezeichnet – und einen solchen Arzt muss man eher heute als morgen zum Teufel jagen! Dazu aber braucht man dieselben Mittel, über die dieser teuflische (Un-)Heilkundler verfügt – und diese Mittel sind nun einmal gewalttätiger Natur.
Wie Du siehst, bin ich mir durchaus darüber im Klaren, welchen Zielen ich mit meiner Tätigkeit bei der österreichischen Armee diene.
Hiermit bekenne ich mich feierlich zu diesen Zielen und zu den Mitteln, die zu ihrer Erreichung eingesetzt werden! Solange ich hierfür keinen besseren Weg finde, werde ich an diesem Bekenntnis festhalten.
Es steht Dir natürlich weiterhin frei, mich mit dem feinen Degen Deiner Worte zu befehden. Aber Achtung: Alles Räsonieren über die Zeit, die angeblich alle Wunden heilt und am Ende sogar das Böse auf wundersame Weise in Gutes verwandelt, werde ich mühelos parieren! Und auch die Warnungen vor der bösen Welt da draußen, aus deren Händeln wir Frauen uns besser heraushalten sollten, können mich nicht treffen. Es braucht schon eine schärfere Klinge, um den Weißen Anton in Verlegenheit zu bringen!
Puh, jetzt war ich aber schon ganz schön hart zu Dir … Aber schau, so sind wir Soldaten nun einmal: harte Schale, weicher Kern. Das weißt‘ doch, gelt? Tief innen jedenfalls liebt Dich noch immer wie am ersten Tag
der Weiße Anton!
Podcast, Episode 11: Carola und Philippine unternehmen mit Friedrich und zwei anderen Männern einen Ausflug nach Bornheim. Anstatt – wie sie gehofft hatte – Friedrich dabei näherzukommen, muss Carola sich die für sie wenig schmeichelhaften Vorstellungen der Männer über das weibliche Geschlecht anhören.
Bild: Porträt Francesca Scanagattas aus einem 1843 erschienenen Buch von Giacomo Lombroso über italienische Offiziere zur Zeit der napoleonischen Kriege (Wikimedia commons). – Francesca Scanagatta (1776 – 1865) gelang es 1794, in die Wiener Neustädter Militärakademie einzutreten und dort die Ausbildung zum Offizier zu durchlaufen. Ohne als Frau erkannt worden zu sein, quittierte sie 1801 den Dienst bei der österreichischen Armee, nachdem sie an zahlreichen Feldschlachten teilgenommen hatte.