Flussgespenster. Ein Bericht von Jonathan

Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/10

Jonathan berichtet seiner Schwester Carola von seiner Überfahrt nach Bacharach. Auf der Fähre zur anderen Rheinseite hatte er ein sehr unangenehmes Erlebnis.

Endlich hatte ich das Ziel meiner Reise erreicht: die Anlegestelle der Fähre, die mich auf die andere Rheinseite, nach Bacharach, bringen sollte. Trotz der frühen Stunde herrschte dort schon recht viel Betrieb. Außer mir warteten bereits vier andere Reisende auf die Ankunft des Fährnachens, der offenbar erst vom anderen Flussufer herüberkommen musste.

Dazu erblickte ich noch drei Wäscherinnen, die mit ihren langen Schürzen und den unter dem Kinn festgeknoteten Kopftüchern im Ufersand standen, neben sich die prall gefüllten Wäschekörbe. Zwei von ihnen waren gerade in eine recht heftige Auseinandersetzung verwickelt.

Bei den beiden Streitenden schien es sich um Mutter und Tochter des Fährmanns zu handeln. Allerdings sah die ältere der beiden so abgehärmt aus und hatte ein so runzliges Gesicht, dass das Paar auf mich eher wie Großmutter und Enkelin wirkte. Die Ältere war ganz in Schwarz gekleidet und beschwor die Jüngere, nicht mit auf die Fähre zu gehen.

„Die Tante ist doch erst gestern beerdigt worden“, redete sie auf die andere ein, „da kannst du doch nicht heute schon wieder an die Arbeit gehen!“

„Ich wüsste nicht, was mich davon abhalten sollte“, entgegnete die Jüngere trotzig.

„Aber Kindchen, so hör doch auf mich!“ jammerte die Ältere. „Es ist doch nur zu deinem Besten!“

Ein entschiedenes Kopfschütteln war die Antwort: „Zu meinem Besten ist es, wenn wir genug zu essen im Haus haben. Und dafür muss ich heute zur Bleiche hinüberfahren – wer weiß, wie lange das sonnige Wetter noch anhält!“

„So lass doch wenigstens das Waschen auf der Fähre sein“, flehte die Ältere sie an. „Du weißt doch, was dir passieren kann, wenn …“

Die Jüngere schnitt ihr das Wort ab: „Ach was! Das sind doch nur Ammenmärchen.“

„Ich habe es oft genug erlebt!“ gab die Ältere weinerlich zurück. „Dein eigenes Leichentuch wirst du waschen, wenn du nicht auf mich hörst!“

Sie begann zu schluchzen, aber die Jüngere beachtete sie gar nicht. Wortlos stieg sie auf den Fährnachen, der in diesem Augenblick anlegte. Der Fährmann, bei dem es sich offenbar um ihren Vater handelte, half ihr beim Verstauen der Wäschekörbe. Die am Ufer zurückbleibende Alte blitzte er dabei so böse an, dass diese unter lautem Wehklagen abzog.

Überhaupt war der Fährmann ein recht ungehobelter Geselle. Seine Kleider waren zerschlissen und so verschmutzt, dass sich ihre ursprüngliche Farbe nicht mehr feststellen ließ. Auch sein Haar und vor allem sein zerzauster Bart wirkten ausgesprochen ungepflegt, wodurch er im Ganzen einen fast schon verwilderten Eindruck auf mich machte.

Erst nachdem die Wäscherinnen in das Boot gestiegen waren, wandte der Fährmann sich den übrigen Wartenden zu. Wortlos ließ er seinen unruhig flackernden Blick von einem zum anderen schweifen, um zu entscheiden, wem er den letzten freien Platz auf der Fähre überlassen sollte. Seine Wahl fiel auf mich, obwohl ich als Letzter zu der Anlegestelle gekommen war. Der Kaufmann wollte protestieren, aber ein Blick des Fährmanns genügte, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Die Münze für die Überfahrt verstaute der Fährmann in einem Beutelchen, das er direkt unterhalb des Kinns trug. Durch seinen langen Bart schien es mir allerdings zunächst, als wollte er sich das Geldstück in den Mund stecken. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie das kalte Metall die Zunge berührte. Dabei überkam mich ein so starkes Ekelgefühl, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.

Kaum hatten wir abgelegt, da zog die Tochter des Fährmanns – unbekümmert um die Vorhaltungen, die ihr die alte Frau gemacht hatte – auch schon eines der Wäschestücke hervor, die sie bei der Überfahrt waschen wollte. Sie schwenkte es mehrfach im Wasser hin und her, bis es sich ganz mit Wasser vollgesogen hatte, wrang es dann kurz aus und legte es schließlich auf die kleine Waschbank, die sich im hinteren Teil des Bootes befand.

Dort stand ein Waschbrett für sie bereit, auf dem sie das Wäschestück mit ihren kräftigen Armen schrubbte. Einige besonders schmutzige Stellen bearbeitete sie mit einer Wurzelbürste, nachdem sie das Wäschestück zuvor noch einmal durch das Wasser geschwenkt hatte. Ihre Bewegungen waren so heftig, dass die Fähre davon leicht zu schwanken begann.

Plötzlich stieß ich einen Schrei aus. Ein weißes, körperloses Wesen trieb auf mich zu, das mit weit ausgebreiteten Armen nach mir griff. Laut flatternd bewegte es sich in meine Richtung, wie ein Raubvogel, der seine Schwingen über ein Beutetier breitet, damit dieses dem Griff seiner Krallen nicht entgeht. Das Furchtbarste an dem Wesen aber war sein Gesicht, das aus nichts als einer dunklen Höhle bestand.

Die Wäscherinnen verstummten augenblicklich, und auch der Fährmann und seine Tochter hielten in ihrem Tun inne. Alle starrten mich an, aber ich konnte ihnen nicht erklären, warum ich geschrien hatte. Erst später kam mir in den Sinn, dass mich wohl das große Leinentuch, das die junge Wäscherin gerade ausgeworfen hatte, genarrt haben musste. Dabei wurde die gespenstische Empfindung, die mich plötzlich übermannt hatte, wohl noch durch die auf dem Fluss treibenden Nebelschwaden verstärkt.

Betreten murmelte ich etwas von einem Klotz, an dem ich mich gestoßen hätte, auch wenn mir klar war, dass meine Erklärung unbefriedigend sein musste. Allzu deutlich war zu erkennen gewesen, dass ich nicht aus Schmerz, sondern vor Angst geschrien hatte.

Podcast, Episode 10: Bei seiner Ankunft in Bacharach wird Jonathan in eine folgenschwere Auseinandersetzung mit den französischen Zöllnern verwickelt.

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