Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/9
Carola, Lina und Antoine helfen einem jüdischen Händler, der von einem städtischen Wächter bedrängt wird. Daraufhin lädt der Händler sie in die Judengasse ein, wo gerade das Laubhüttenfest begangen worden ist.
Bei einem sonntäglichen Spaziergang wurden Carola, Lina und Antoine von einem fliegenden Händler angesprochen, der sie einlud, sein Warensortiment zu begutachten. Dieses bot er in einer Bauchlade feil, die er an der Unterseite zusätzlich mit einem Stock abgestützt hatte. Kunstvoll geschliffene Ohrringe hatte er ebenso im Angebot wie Nähgarn. Neben Heilkräutern lagen kleine Bücher, winzige Porzellantässchen fanden sich neben künstlichen Locken.
Was Carola allerdings zuerst ins Auge fiel, waren die feinen Gesichtszüge des Händlers, die so gar nicht zu ihrer Vorstellung eines bei Wind und Wetter umherziehenden Hausierers passten. Zudem redete der Mann viel leiser und war auch ansonsten viel zurückhaltender, als sie es von derartigen Händlern gewohnt war.
Der Mann sprach auch kein Hessisch. Stattdessen redete er sie in einem Dialekt an, der Carola altertümlich und auch etwas umständlich erschien. Die Kleidung des Mannes wirkte zwar etwas abgetragen, machte aber nichtsdestotrotz einen sehr gepflegten Eindruck. Am auffallendsten waren der breitkrempige Hut, der altmodische weite Mantel und die bis zu den Knien reichenden Gamaschen.
Angezogen von der ungewöhnlichen Erscheinung des Straßenhändlers, begannen Carola, Lina und Antoine, in seinem tragbaren Gemischtwarenladen zu stöbern. Er machte sie auf diese oder jene Besonderheit seiner Waren aufmerksam, ohne dass dies jedoch in irgendeiner Weise aufdringlich gewirkt hätte. Eher erinnerte er Carola an einen Mönch, der Besuchern die Sehenswürdigkeiten seiner Klosterkirche näherbringen möchte. Zudem schien es ihr, als würde seine Stimme durch den imposanten Vollbart, dessen Locken sich bis über das Halstuch herunterschlängelten, gedämpft.
Als Lina und Carola eben die Ohrringe begutachteten, näherte sich ihnen vom Zeughaus her ein städtischer Wächter. Schon von Weitem fuchtelte er aufgeregt mit den Armen, und noch ehe er sie erreicht hatte, rief er dem Händler zu: „Was fällt dir ein, dich hier am Sonntag blicken zu lassen? Du weißt doch ganz genau, dass das strengstens verboten ist!“
Zu uns gewandt, setzte er dienstbeflissen hinzu: „Entschuldigen Sie bitte, dass der Jud Sie belästigt hat. Ich werde ihn gleich mit auf die Wache nehmen.“
Er machte Anstalten, den Händler rüde am Arm zu packen, aber in dem Augenblick mischte Antoine sich ein. „Mais qu’est-ce qu’il fait là?“ fragte er empört.
Nachdem Lina ihm erklärt hatte, um was es ging, stellte Antoine klar: „Aber der Mann hat uns doch gar nicht belästigt! Wir haben uns ihm ganz freiwillig genähert, weil wir uns für seine Waren interessieren!“
„Aber das geht doch nicht!“ beharrte der Wächter. „Heute ist Sonntag, und an Sonntagen wird nun einmal nicht gehandelt. Das gilt für alle – auch für die Ungläubigen!“
Es war nicht ganz klar, ob er sich mit dem letzten Wort auf Antoine oder auf den jüdischen Händler bezog. Jedenfalls ließ Antoine keinen Zweifel daran, dass er sich durchaus nicht von seinem Tun abbringen lassen würde. Schließlich füge er damit, so erklärte er gegenüber dem Gesetzeshüter, doch niemandem Schaden zu. „Chacun à sa façon – haben Sie davon noch nichts gehört?“
Damit wandte er sich wieder dem Warensortiment in der Bauchlade zu und tat so, als wäre der Wächter gar nicht da. Diesem war deutlich anzumerken, wie schwer es ihm fiel, die Demütigung klaglos hinzunehmen. Aber gegen die Autorität eines französischen Offiziers war er letztlich doch machtlos.
„Wie Sie wollen!“ sagte er schließlich beleidigt. „Aber Sie werden verstehen, dass ich den Vorfall melden muss. Sie werden dann die Konsequenzen zu tragen haben!“
Angesichts der augenblicklichen französischen Herrschaft über die Stadt war dies allerdings nichts als eine leere Drohung. So blieb dem Wächter nichts anderes übrig, als das Feld zu räumen.
Sobald er außer Sichtweite war, faltete der Händler seine Hände vor dem Gesicht und neigte den Kopf leicht nach unten, um uns seine Ehrerbietung zu bezeigen. „Gelobt sei der Ewige, dass er mich eure Bekanntschaft machen ließ!“ murmelte er mit seiner weichen Stimme. „Erweist mir die Ehre und folgt mir, damit ich euch gebührend danken kann.“
So kam es, dass Lina und Carola zum ersten Mal die Judengasse betraten. Bis zu diesem Tag hatten sie noch nie einen Fuß in die Judengasse gesetzt. Die Gasse war seit jeher ein übel beleumdeter Ort gewesen, den zu betreten ihre Eltern ihnen stets rigoros verboten hatten. Natürlich hatte dies für sie in ihrer Kindheit den Reiz der Gasse eher noch erhöht. Da Tante Agathe unweit des auf die Predigergasse führenden Tores wohnt, hatten sie sich nicht selten dorthin geschlichen, wenn sie bei ihr zu Besuch waren und sich der Aufsicht ihrer Eltern entziehen konnten.
Durch das Tor einen Blick auf die Judengasse zu werfen, war eine Art Mutprobe für sie gewesen. Nie hätten sie es aber gewagt, die Gasse zu betreten. Es war nicht so sehr das Verbot ihrer Eltern, das sie davon abhielt. Eher schreckten sie das hektische Gewimmel und die unangenehmen Gerüche ab, die durch das beengte Zusammenleben so vieler Menschen nicht zu vermeiden waren. Seit dem großen Brand von 1796 kam noch die Angst vor dem Gesindel dazu, das sich, wie immer wieder kolportiert wurde, angeblich zwischen den Trümmern der zerstörten Häuser herumtrieb.
Zwar wurden die Tore, welche die Gasse vom übrigen Teil der Stadt trennten, nicht mehr wie früher nachts und an Feiertagen verschlossen. Dies verhinderte schon der Schaden, den gerade das Nordtor durch den Brand genommen hatte. Trotzdem markierten die Torbögen für Carola noch immer eine Grenze, durch welche die eine Ordnung von der anderen geschieden wurde.
Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Gasse – so zerstört sie auch sein mochte – in ihrem äußeren Aufbau noch ganz das frühere Erscheinungsbild widerspiegelte. Vor allem wurde sie noch immer zu beiden Seiten von hohen, dunklen Mauern begrenzt, die in Carola sogleich ein Gefühl des Eingeschlossenseins aufkommen ließen.
Tatsächlich konnte der Abstand zwischen den Häuserreihen – wo sie noch vorhanden sind – an einigen Stellen kaum mehr als drei Meter betragen. Bei längerem Verweilen in der Gasse musste daher unweigerlich der Eindruck von Dunkelheit entstehen, so hell die Sonne auch scheinen mochte. Sah man nach oben, so kam es einem vor, als würden die Mauern aufeinander zulaufen und alles Leben unter sich begraben.
Einige der bei dem Brand vor vier Jahren zerstörten Häuser waren mittlerweile wieder notdürftig aufgebaut worden. Dabei handelte es sich aber unverkennbar vor allem um Häuser ärmerer Familien, die sich die Miete für eine Wohnung außerhalb der Gasse nicht leisten konnten. Die reicheren Familien hatten es, nachdem sie endlich dieser ewigen Nacht entronnen waren, offenbar nicht allzu eilig, dorthin zurückzukehren. So fand Carola an vielen Stellen die Ruinen und Schutthaufen der Häuser in fast demselben Zustand vor, in dem ihre Bewohner sie nach dem großen Feuer zurückgelassen hatten.
Von ihrer Tante, die noch den Kontakt zu den alten Ratskollegen ihres Vaters pflegte, wusste Carola allerdings, dass die Rückkehr nicht nur durch die ehemaligen Bewohner selbst hinausgezögert wurde. Vielmehr schien dies auch die Schuld des Rates zu sein, der die Entscheidung über die künftige Bebauung der Gasse immer wieder verschob. Offensichtlich wollte man damit warten, bis die Franzosen wieder aus der Stadt verschwunden waren.
Schließlich hatten diese den bisherigen Umgang der Stadt mit den Juden schon bei verschiedenen Anlässen scharf kritisiert. Der Plan des Rates, die Judengasse in ihrer früheren Form wieder aufzubauen und sich dem Drängen der ehemaligen Bewohner nach größeren Grundstücken und einer Erweiterung der Gasse zu widersetzen, wäre daher unter den gegenwärtigen Machtverhältnissen kaum durchsetzbar gewesen.
Podcast, Episode 9: Carola, Lina und Antoine werden von der Familie bewirtet, die den jüdischen Händler bei sich aufgenommen hat. Es entwickelt sich ein Gespräch über die hinter dem Laubhüttenfest stehende Philosophie und über die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung Frankfurts.

Bild: Anton Burger (1824 – 1905): Judengasse in Frankfurt (1883); Hamburger Kunsthalle (Wikimedia commons)