Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/7
Lina und Carola sehen dem Treiben am Frankfurter Hafen zu. Dies erweist sich als nicht ganz ungefährlich. (Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens).
Carola war überrascht. Als sie wieder einmal bei ihrer Schwester Lina vorbeischaute, wollte diese unbedingt einen Spaziergang zum Hafen machen. Carola hatte durchaus nicht den Eindruck, dass es ihrer Schwester besser ginge als bei ihrem letzten Besuch. Sie versuchte deshalb, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Die vielen Geräusche, das Gewimmel und Gewusel der Menschen, Wagen und Pferde, die unangenehmen Gerüche der Abfälle – sie war überzeugt, dass das alles keinen günstigen Einfluss auf Linas Gesundheit hätte.
Auf Carolas Vorhaltungen hin wurde Lina jedoch fast ein wenig wütend und drohte damit, notfalls allein zum Hafen zu gehen. So musste Carola wohl oder übel ihrem Drängen nachgeben.
Sie gingen zunächst zur Mainbrücke und sahen den Treidlern zu, die an dieser Stelle die Furt überquerten, um mit ihren Pferden zu dem Treidelpfad am anderen Mainufer zu gelangen und dort die Schiffe weiter flussaufwärts zu ziehen.
Aus der Ferne wirkte das Geschehen am Hafen wie ein einziger großer Tumult aus Leibern, Rädern, Masten und Hufen. Erst als sie die Brücke verließen und dann, am Rententurm vorbei, zu den Schiffsabladeplätzen weitergingen, nahm das bunte Mosaik von Eindrücken allmählich schärfere Konturen an.
Schwer beladen mit einem Holzfass und verschiedenerlei Reisegepäck eines Kaufmanns schleppte sich ein Mann mit einer Schubkarre an ihnen vorbei. Auf dem Kopfsteinpflaster, das auf Höhe des Fahrtors leicht zum Fluss hin abfiel, um den Zugpferden den Eintritt in das seichte Wasser zu ermöglichen, hatte er sichtlich Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Ohne die Unterstützung des jungen Knechtes, der die Schubkarre vorne an einem Seil zog, wären die Waren wohl von der gebogenen Ladefläche heruntergefallen, und das Fass wäre geradewegs in Richtung Fluss gerollt.
Der Kaufmann, der ungerührt neben dem Schubkarren herging, schien ein solches Unglück freilich nicht im Entferntesten in Betracht zu ziehen. Offenbar war er in Gedanken ganz woanders. Vielleicht errechnete er gerade den Gewinn, den der Verkauf der Waren ihm einbringen würde, oder er dachte schon an den nächsten Handel, den er einfädeln wollte.
Während der Schubkärcher zum Fahrtor hin abbog, fiel Carolas Blick auf die Reihe der Fuhrleute, die hier auf Aufträge warteten. Einer von ihnen hatte sich auf den gebogenen Holzstämmen, welche die beiden Radpaare miteinander verbanden, ausgestreckt, ein anderer besserte gerade eine der Achsen aus, die durch die schweren Waren ständig einer großen Belastung ausgesetzt waren.
Die Pferde standen gelangweilt daneben oder harrten vor den Wagen angeschirrt der Befehle ihrer Herren. Erstaunlich gleichmütig sahen sie einem Artgenossen zu, den der Fuhrmann unter lautem Geschrei und mit heftigem Peitschenknallen dazu bewegen wollte, rückwärts in die einzige Lücke zu stoßen, die sich noch zwischen den anderen Wagen fand. Schnaubend und wiehernd wehrte sich das Tier gegen die ungewohnte Fortbewegungsart. Unter tätiger Mithilfe des Knechtes, der den Wagen von hinten zog, gelang es dem Fuhrmann am Ende aber doch, sein Gefährt in die gewünschte Position zu bringen.
Nachdem Carola und Lina die Fuhrwerke hinter sich gelassen hatten, gelangten sie in das Herzstück des Hafens, das durch den großen, schieferbedeckten Kran markiert wurde. Unter dem gestrengen Blick des vor dem Fahrtor postierten Wächters wurden hier Ballen, Säcke und Fässer hin und her transportiert, senkten sich die Schiffe unter der Last der Waren oder stiegen befreit von ihnen aus dem Wasser auf, während schon die nächsten Handelsgüter darauf warteten, zur Befriedigung ferner Bedürfnisse von ihnen davongetragen zu werden.
Vorne an der Mauer, die an dieser Stelle die Begrenzung zum Fluss bildet, standen ein paar Kinder und winkten einem gerade ablegenden Lastkahn hinterher. Unter dem Segeltuch, welches das Schiff, von einem Holzgestänge getragen, fast in seiner ganzen Länge bedeckte, zeichneten sich die Konturen der dicken Ballen ab, die sich bis an die Reling stapelten. Vorsichtig manövrierte der Steuermann den Kahn durch das seichte Wasser.
An einem Bettler vorbeigehend, der gerade in demütiger Haltung von zwei Mönchen einen Kreuzer entgegennahm, erreichten Carola und Lina den Schwenkbereich des Krans, vor dem sie in gebührendem Abstand Halt machten. Quietschend und knarrend griff sich der einarmige Riese, unterstützt von seinen Helfershelfern am Boden, ein riesiges Fass und schwenkte es dann zu der Ladefläche eines unter seinem Greifarm stehenden Fuhrwerks.
Der Wagen war schon so schwer beladen, dass Carola fürchtete, er könnte unter der zusätzlichen Last des Fasses zusammenbrechen. Doch der Fuhrmann wusste natürlich, wie er die Lasten zu verteilen hatte. So konnte er das Pferd, das diese zu ziehen hatte, kurz darauf ohne Schwierigkeiten in Richtung des Fahrtors lenken.
Kaum war der eine Fuhrmann davongetrabt, da eilte schon der nächste herbei, begierig, sich die Dienste des Greifers zu sichern. Unermüdlich und unersättlich schnappte dieser nach Fässern und Truhen, Ballen und Säcken. Man konnte nur froh sein, dass er es nicht auf Menschen abgesehen hatte.
Obwohl … In Wahrheit schnappte er durchaus auch nach Menschen – nur dass die Menschenopfer, die er verlangte, nicht so sichtbar waren. Hätte man ihn nicht regelmäßig mit Menschen gefüttert, die in seinem Bauch seinen nimmermüden Kreislauf in Gang hielten, wäre er auch niemandem zu Diensten.
Man musste sich nur vor Augen halten, wie oft die Seilzüge schon gerissen waren und die Lakaien des Greifers in ihren Laufrädern einem jähen, entsetzlichen Todeswirbel ausgesetzt hatten. Letztlich war er eben doch wie der Drache im Märchen, der vor den Toren der Stadt auf der Lauer liegt und dort seinen ständigen Tribut an Menschenleibern fordert, um den übrigen Stadtbewohnern ihr brüchiges Wohlleben zu erlauben.
Gerade hatte der Kran seine Krallen um ein neues Warenbündel gelegt, da näherte sich vom Weinmarkt her ein Fuhrwerk, das nur mit einem einzigen großen Fass beladen war. Carola fiel sofort auf, dass der Fuhrmann sein Pferd angesichts des Gedränges vor dem Kran fiel zu schnell vorwärts steuerte, zumal das Tier erkennbar unruhig war. Es warf den Kopf zurück, hob die Beine höher, als es für den Trab notwendig gewesen wäre, und war nur durch laute, anfeuernde Rufe und Peitschenhiebe dazu zu bewegen, weiterzugehen. Die Gewalt, die auf es ausgeübt wurde, verstärkte dabei allerdings seine Unruhe noch.
Als der Greifarm des Krans hochschnellte und dann in die Richtung des unruhigen Pferdes schwenkte, kam es, wie es kommen musste: Das Tier bäumte sich auf und ruderte wild mit den Vorderhufen, so dass der Wagen umzustürzen und das Pferd alles zu zermalmen drohte, was sich ihm in den Weg stellte. Der Fuhrmann war zu Boden gestürzt und hatte sich erst einmal zur Seite geworfen, um nicht selbst von den Hufen des Pferdes getroffen zu werden. Von ihm war vorerst keine Hilfe zu erwarten.
Lina und Carola standen in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Die natürliche Reaktion wäre wohl gewesen, wie alle anderen die Flucht zu ergreifen. Stattdessen blickten sie jedoch wie gebannt auf den wilden Hengst, der schnaubend auf sie zusprang.
Eng umschlungen standen sie da, die Köpfe aneinandergelehnt, die Augen geschlossen, wie Tiere, die sich für unsichtbar halten, wenn sie selbst ihren Feind nicht sehen. Was sie empfanden, war freilich eher eine vollständige Ohnmacht, eine Lähmung aller Sinne, die nurmehr ein einziges dumpfes Gefühl in ihren Adern pulsieren ließ: die Gewissheit, dass etwas Schreckliches passieren würde.
Ebook (Neuausgabe)

Podcast
Podcast, Episode 7: In höchster Not werden Carola und Lina von dem Südseereisenden Antoine gerettet. Als sie mit ihm ins Gespräch kommen, entwickelt er mit ihnen Utopien eines anderen Lebens, zu denen ihn seine Expeditionen in die Südsee angeregt haben.

Materialienband zum Roman
Bild: Friedrich Wilhelm Hirt (1721 – 1772): Das Mainufer am Fahrtor (1757), aufgenommen von Horst Ziegenfusz; Historisches Museum Frankfurt (Wikimedia commons). Das Museum bietet die Möglichkeit, das Gemälde mit einer Lupenfunktion zu betrachten und so die zahlreichen Details des Bildes besser erkennen zu können.