Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/6
In einem Brief an seine Schwester Carola berichtet Jonathan von einem merkwürdigen Reiseerlebnis: Ein fahrender Händler hat ihm ein Fernrohr mit einem unangenehmen Eigenleben verkauft (Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens).
Nein, mein liebes Schwesterchen, ich bin noch immer nicht in Bacharach angekommen. Leider bade ich noch immer im Staub der Landstraße. Denn die Kutsche, die mich nach Bacharach bringen sollte, hat bedauerlicherweise einen Achsenbruch erlitten. So sitze ich nun wieder in einem dieser schäbigen Gasthöfe und vertreibe mir die Zeit auf die angenehmste Weise, die ich mir denken kann: mit einem Brief an Dich.
Lass mich Dir zunächst von einem merkwürdigen Reiseerlebnis berichten, das ich auf dem Weg nach Bacharach hatte. Da es bis zu meinem Zielort nicht mehr weit war, habe ich es nach dem Unfall mit der Kutsche nämlich vorgezogen, den Rest meines Weges zu Fuß zurückzulegen.
Anfangs bin ich recht munter ausgeschritten und auch ein gutes Stück vorangekommen. Sobald ich den ersten Schrecken verdaut hatte, regte sich allerdings ein starkes Hungergefühl in mir. So ließ ich mich denn am Straßenrand nieder, um ein wenig zu rasten.
Ohnehin lud der Rhein, der sich hier besonders kühn an den Felsen vorbeiwand, zum Verweilen ein. Ich nahm einen kräftigen Schluck aus meiner Reiseflasche, die ich daheim mit Branntwein gefüllt hatte, und kramte den Brotrest hervor, der mir vom Vortag noch geblieben war.
Nach Herzenslust kauend, den Blick auf die Stromschnellen des Flusses gerichtet, bemerkte ich zunächst gar nicht, wie sich jemand neben mich setzte. Erst als ich von der Seite angesprochen wurde, fuhr ich aus meinen Betrachtungen auf.
„Da möchte man wohl wissen, wie’s auf der andere Seite aussieht“, hörte ich eine heisere Stimme sagen.
Mich umwendend, blickte ich in ein Gesicht, wie Du es Dir kaum merkwürdig genug vorstellen kannst. Während ein Auge mich mit einem stechenden Blick fixierte, war das andere nach schräg oben gerichtet, als erspähte es dort etwas, das für mich unsichtbar war. Noch nie hatte ich ein so perfekt gemachtes Glasauge gesehen! Wäre es nicht so seltsam verkehrt ausgerichtet gewesen, hätte ich es gewiss für echt gehalten.
Was mir außerdem sofort auffiel, waren die Lippen des Mannes. Sie waren so wulstig aufgeworfen, dass es aussah, als befände sich hinter ihnen kein Gebiss, sondern ein zweiter, nach außen drängender Ring von Lippen. Dies alles umflackerte wie das verzerrte Spiegelbild eines Heiligenscheins ein Kranz rötlich schimmernder Haare, der an den Schläfen in einen buschigen, die hoch stehenden Wangenknochen betonenden Backenbart überging.
Das Aussehen des Mannes übte eine solche Faszination auf mich aus, dass ich für einen Augenblick ganz vergaß, was er gesagt hatte. Wahrscheinlich habe ich ihn eine Zeit lang recht unhöflich angestarrt.
„Sie meinen“, besann ich mich endlich auf seine Worte, „wegen der Franzosen, die jetzt dort herrschen? Ja, dadurch hat sich natürlich einiges verändert dort drüben. Aber wenn man sich einen Pass machen lässt, kann man doch jederzeit problemlos übersetzen und die Veränderungen in Augenschein nehmen.“
Anstatt zu antworten, lächelte der Mann nur vielsagend und kramte in den Taschen seines verschlissenen Rocks. Unmittelbar darauf hielt er mir eines dieser neumodischen Taschenfernrohre vor die Nase, die sich zusammenschieben und bequem mit auf die Reise nehmen lassen. Mit feierlicher Geste zog er das Perspektiv auseinander, ehe er es mir überreichte.
„Da“, sagte er großmütig, „schauen Sie nur hindurch – allerfeinste Ware!“
Ich begriff, dass ich es offenbar mit einem fahrenden Händler zu tun hatte, der in mir ein lohnendes Opfer sah. Um ihn loszuwerden, beschloss ich, das Perspektiv kurz ans Auge zu halten und es ihm dann mit irgendeiner Ausrede zurückzugeben. Vielleicht war es ja tatsächlich von so minderwertiger Qualität, wie sein ramponiertes Äußeres vermuten ließ, und ich konnte das Kaufangebot mit dieser Begründung zurückweisen. Andernfalls wollte ich einfach sagen, dass ich leider nicht genug Geld dabei hätte.
Sobald jedoch das kalte Metall des Rohres mein Auge umschloss, war es mir, als zöge das Perspektiv mich in sich hinein, oder umgekehrt, als stürzte durch dieses die ganze Welt ungebremst auf mich zu. Es war wie ein Sturz ins Bodenlose, nur dass ich den Eindruck hatte, nicht nach unten, sondern nach vorn zu fallen.
Ein heftiger Schwindel erfasste mich, so dass ich anfangs überhaupt nichts wahrnahm. Dann schossen Farbsplitter an meinem Auge vorbei, Funken zuckten auf und waren im nächsten Augenblick schon wieder verglüht. Schließlich meinte ich auch einzelne Gegenstände unterscheiden zu können. Metallisch glitzerten sie in der Sonne, umsprüht von den Lichttropfen, die ich gleich zu Beginn wahrgenommen hatte.
Aber alles entglitt meinen Blicken, nichts ließ sich festhalten, die Dinge zerfielen, sobald ich sie zu fixieren suchte. Dazu hatte ich das deutliche Gefühl, als hallte die Luft wider von einem unaufhörlichen Donnern. Und obwohl ich mir sagte, dass dies nicht mit dem Perspektiv zusammenhängen könne, fand ich doch keine andere Erklärung für das markerschütternde Grollen.
Plötzlich – ich hatte das Fernrohr wohl, ohne es zu merken, zur Seite geschwenkt – fiel mein Blick auf einen wirren Haarkranz, eine spitze Nase und hohe Backenknochen, unter denen die Wangen wie zwei tiefe Krater wirkten.
„Ach so – der Händler“, denke ich, erleichtert, dass mein Blick sich wieder an etwas Bekanntem festhalten kann. Wie ich das Gesicht aber näher betrachte, bemerke ich, dass das Glasauge verschwunden ist. Auch das andere Auge ist nicht mehr zu sehen, es sind nur noch ihre Höhlen da, die meinen Blick ins Leere ziehen. Ich weiche ihnen aus, aber dabei treffe ich auf den Mund, der auch nur noch ein großes, schwarzes Loch ist, das mich in sich hineinsaugt mit unwiderstehlicher Kraft.
Von jähem Schrecken gepackt, möchte ich das Fernrohr herunterreißen, aber es klebt an mir, als hätte es sich in meine Haut eingebrannt. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann es nicht mehr von meinem Auge lösen. Da spüre ich, wie sich ein paar knöchrige Finger über meine Hand schieben, wie sie langsam über das Rohr streichen, bis sie mein Auge erreichen.
Unter dieser Berührung gibt das Perspektiv endlich nach. Mit einem heftigen Ruck reiße ich es herunter – und blicke geradewegs in das verzerrte Lächeln des fahrenden Händlers.
„Beeindruckend, nicht wahr?“ höre ich seine schnarrende Stimme sagen. „Wie ich sehe, können Sie sich gar nicht mehr von dem Fernrohr trennen …“
Ich war benommen wie nach einer langen, beschwerlichen Reise, die mir zugleich wie ein Ritt auf einem durchgegangenen Pferd erschien. Mein einziger Gedanke war jetzt, das Fernrohr so schnell wie möglich loszuwerden. Wozu brauchte ich auch einen Vorwand? Wenn ich das Ding nicht haben wollte, konnte ich es auch einfach so zurückgeben. Schließlich war ich dem Händler doch keinerlei Rechenschaft schuldig!
Noch während ich ihm das Perspektiv hinhielt, musste ich allerdings zu meinem Erschrecken feststellen, dass es – wie zuvor an meinem Auge – nun an meiner Hand klebte. Sicher ein Phänomen, das sich ohne weiteres mit Magnetismus erklären lässt, analysierte mein Verstand, während gleichzeitig mein Gefühl mir die Überzeugung eingab, ich könnte den Bann nur durch den Kauf des Fernrohrs brechen.
Wenn ich Dir jetzt gestehe, dass ich auf mein Gefühl gehört habe, wirst Du wahrscheinlich an meinem Verstand zweifeln. Ich kann Dir das nicht verdenken. Du hast diesen Händler ja auch nicht erlebt – seinen stechenden Blick, seine spinnenartigen Hände, sein flackerndes Haar. Mir war klar, dass er irgendeine List angewandt haben musste, um das Fernrohr an mich zu ketten, und dass er diesen Zauber nicht eher aufheben würde, als bis ich ihm das Ding abgekauft hätte. Also griff ich schließlich mit der freien Hand in meine Rocktasche und hielt ihm die erstbeste Münze hin, die ich zu fassen bekam.
„Da“, sagte ich atemlos, „das ist alles, was ich habe.“
Das war natürlich gelogen. Dem Händler aber schien es ganz egal zu sein, was für ein Geldstück ich ihm reichte. Im ersten Augenblick hatte ich sogar den Eindruck, als würde ihn die Münze gar nicht interessieren. Stattdessen fixierte er mit seinem Eulenblick die Wunde an meinem Handballen, die ich mir beim Herausklettern aus der Kutsche zugezogen hatte. Beim Wühlen in der Tasche war sie wieder aufgebrochen, so dass die Münze in meiner Hand an einer Stelle mit Blut beschmiert war.
„Oh, entschuldigen Sie“, murmelte ich, als ich das Blut bemerkte. Ich machte Anstalten, es abzuwischen, doch der Händler kam mir zuvor. So geschwind griff – fast möchte ich sagen: hackte – er nach dem Geldstück, dass ich kaum wusste, wie mir geschah.
Sobald die Münze den Besitzer gewechselt hatte, löste sich das Fernrohr von meiner Hand. Erleichtert schob ich es zusammen und verstaute es in meiner Tasche, fest entschlossen, es bei nächster Gelegenheit in den Fluss zu werfen. Da traf mich plötzlich ein heftiger Windstoß, durch den mir eine ganze Prise Sand in die Augen geweht wurde. Je mehr ich rieb, desto mehr stach und brannte es unter meinen Lidern, die ich reflexartig zukniff. Auch begannen meine Augen stark zu tränen, so dass ich eine Zeit lang wie erblindet war.
Als meine Tränen den Sand aus den Augen gespült hatten und ich mich langsam wieder in meine Umgebung zurückblinzelte, war der Händler verschwunden.
Podcast, Episode 6: Vollständiger Brief von Jonathan; außerdem: Erlebnisse Carolas auf dem Frankfurter Fischmarkt
Bild: Alfred Wierusz-Kowalski (1849 – 1915): Reiseunfall (1873); Warschau, Polnisches Nationalmuseum (Wikimedia commons)