Annies Weg in die österreichische Armee

Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/5

Annie verkleidet sich als Mann, um in die Armee eintreten zu können. In einem Brief berichtet sie ihrer Freundin Carola davon, wie sie dafür einen Werbeoffizier an der Nase herumgeführt hat (Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens).

Aus einem Brief Annies an ihre Freundin Carola:

Nachdem ich meine Entscheidung, zum Militär zu gehen, getroffen hatte, ergab sich der Rest fast wie von selbst. Abgesehen von einem finster-entschlossen wirkenden Haarschnitt, für den ich umstandslos meine Lockenpracht opferte, brauchte ich natürlich Männerkleider. Dafür musste ich nur in die Kleidertruhe meines Bruders greifen, als dieser gerade außer Haus war.

Ich suchte mir absichtlich schon etwas abgetragene Kleidungsstücke aus, um für die Werbeoffiziere als lohnenderes Opfer zu erscheinen. Außerdem war so die Gefahr geringer, dass mein Bruder die Kleider vermissen würde.

An einen Werbeoffizier heranzukommen, war auch kein großes Problem. Zwar werden neue Soldaten wegen der französischen Besatzungssoldaten in Frankfurt nicht mehr so offen angeworben wie früher, aber jeder weiß doch, dass zumindest während der Messe Werber aus verschiedenen Ländern in der Stadt sind. Die Gasthäuser, in denen man sie antreffen kann, sind auch noch dieselben. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass sie nicht mehr ihre Fahnen zum Fenster heraushängen.

Ich begab mich also zum „Roten Ochsen“, von dem allgemein bekannt ist, dass er den österreichischen Werbern als Quartier dient. Tatsächlich musste ich auch nicht lange warten, bis ich von einem Mann mittleren Alters angesprochen wurde. Seine Zivilkleidung sollte zwar nach außen hin als Tarnung dienen, verriet aber durch ihre besondere Akkuratesse doch den Offizier.

Der Mann fragte zunächst ganz harmlos, ob er sich wohl dazusetzen dürfe. Dann begann er ein Gespräch, das, obschon um scheinbar belanglose Dinge kreisend, ihm doch peu à peu die nötigen Informationen über meine Person lieferte. Ich wusste natürlich genau, was er hören wollte, machte mir aber einen Spaß daraus, ihn ein wenig zappeln zu lassen.

Als der Mann sich wie nebenbei danach erkundigte, ob ich schon einmal bei der Armee gedient hätte, habe ich ihn ganz schön in Verlegenheit gebracht. Sein Manöver war aber auch allzu leicht zu durchschauen: Wäre meine Antwort „Ja“ gewesen, so hätte er mich wahrscheinlich den Werbern des betreffenden Landes gemeldet. Der eigene Geldbeutel ist den Herren Werbeoffizieren eben wichtiger als die Sorge um ihre Armee, weshalb sie lieber den „Finderlohn“ für den entlaufenen Soldaten kassieren.

So antwortete ich ohne zu zögern mit „Nein“. Dabei setzte ich allerdings hinzu, dass mich der Dienst bei der Armee durchaus reizen würde, ich jedoch von meinen Bekannten sehr unangenehme Dinge darüber gehört hätte. Vor allem von den kaiserlichen Truppen erzähle man sich ja wahre Schauermärchen!

Da fühlte sich der Offizier bei der Ehre gepackt, so dass er für einen Augenblick seine Maskerade als gewöhnlicher Zivilist vergaß. „Aber junger Mann!“ entrüstete er sich. „Bestimmt verwechseln Sie uns mit den Preußen. Denn wir Österreicher, ich meine …“

„Dann sind Sie also auch aus Österreich?“ hakte ich schnell nach.

„Nein, das heißt … Österreich ist ja ein sehr großes Land, mit vielen verschiedenen Völkern …“ Um abzulenken, fragte er rasch: „Aber wie kommt es denn, dass ein so prächtiger Bursche wie du ganz allein in diesem Wirtshaus sitzt?“

Ich sagte ihm, dass ich ein Handwerksbursche auf Wanderschaft sei. Ich hätte die Goldschmiedekunst erlernt – das hatte mich in der Tat schon immer interessiert – und in Frankfurt Station gemacht, weil ich neugierig gewesen sei auf die Schmuckauslagen der Händler während der Messe. Auf meiner Reise hätte ich noch niemanden kennengelernt, denn ich sei erst seit wenigen Tagen auf der Walz.

„Weißt du was?“ sagte der Werber da unvermittelt. „Das feiern mir jetzt mal so richtig! Du bist wirklich ein tüchtiger Kerl, und deshalb möchte ich dich gern zu einem ordentlichen Umtrunk einladen. Ich muss nur noch rasch ein paar Dinge erledigen, dann geselle ich mich wieder zu dir – einverstanden?“

Ich willigte ein und ließ ihn in dem Glauben, sein Spiel nicht zu durchschauen – was ich natürlich durchaus tat. Nur welche „Angelegenheiten“ er noch zu erledigen hatte, erfuhr ich erst bei seiner Rückkehr.

Bei einem Goldschmied konnte der Werber natürlich nicht damit rechnen, dass er sich freiwillig zur Armee melden würde. Schließlich galten die Goldschmiedezünfte überall als elitärer Kreis. Wem es einmal gelungen war, in diesem Kreis Aufnahme zu finden, würde sich kaum aus freien Stücken wieder daraus verabschieden. Mein Offizier musste also annehmen, mich nur mit einer List für den Dienst bei der Armee gewinnen zu können.

Nach allem, was man sich so über die Schliche der Werber erzählt, war davon auszugehen, dass er versuchen würde, mich betrunken zu machen, um mir dann in einem günstigen Augenblick die Unterschrift unter einen  Vertrag zum Armeedienst abzuluchsen. Sobald er gegangen war, begab ich mich daher zum Wirt und überredete ihn mit Hilfe eines ordentlichen Trinkgeldes, mir ab sofort nur noch Traubensaft statt Wein und Wasser statt Branntwein zu bringen – freilich ohne meinen „Gönner“ etwas davon wissen zu lassen.

Als der Werbeoffizier nach kurzer Zeit zurückkam, hatte er eine nicht mehr ganz junge Frau bei sich, deren Aufmachung keinen Zweifel an dem Gewerbe ließ, dem sie nachging. Der Ausschnitt ihres Kleides war noch tiefer als bei unserer ohnehin schon recht freizügigen Mode üblich. Dazu beugte sie sich, sobald sie am Tisch saß, so weit vor, dass das Wenige, was ihr Kleid verbarg, sich ungeniert den Blicken darbot. Sie roch nach irgendeinem billigen Duftwasser, das sich unangenehm mit ihren sonstigen Ausdünstungen verband.

Von diesem Augenblick an hatte das Spiel seinen Reiz für mich verloren. Ich beschloss daher, mich möglichst schnell betrunken zu stellen, um es zu beenden.

Der Werbeoffizier ließ nun reichlich Wein und dazu mehrere Schüsseln mit Fleisch und Gemüse auftischen, während seine Begleiterin mich nach allen Regeln der Kunst umgarnte. Dabei forderte sie mich unablässig zum Trinken auf und goss mir meinen Becher voll, sobald ich ihn geleert hatte. Schon nach kurzer Zeit bestellte der Werber ein neues Seidel, ganz allein für mich, außerdem noch zwei große Gläser voll Branntwein, um mit mir auf „diesen schönen Abend“ anzustoßen.

Dienstbeflissen brachte der Wirt beides sofort an unseren Tisch, wobei mir sein verschwörerisches Augenzwinkern zeigte, dass er sich an unsere Abmachung hielt. Für ihn war das Ganze ja auch ein hervorragendes Geschäft, konnte er doch Wasser und Saft als erlesene Tropfen verkaufen und bekam dafür noch ein üppiges Trinkgeld.

Nachdem ich das zweite Seidel und das vierte Branntweinglas geleert hatte, schien es mir an der Zeit, den Betrunkenen zu mimen. Ich überwand also meinen Ekel, umarmte meine übel riechende Geschlechtsgenossin und küsste sie sogar auf die Wange. Dazu stimmte ich das erstbeste Wanderlied an, das mir in den Sinn kam, wobei ich mich bemühte, bei jedem Ton danebenzuliegen.

Den Werber bezeichnete ich, ihm zuprostend, als meinen besten Freund. Ich lachte laut und misstönend, um dann im nächsten Augenblick mit tränenerstickter Stimme meiner „armen, einsamen Mutter“ zu gedenken. Sicher würde es auch sie, lallte ich voller Wehmut, im tiefsten Innern erfreuen, könnte sie mich jetzt so wohl versorgt und in so angenehmer Gesellschaft in diesem Wirtshaus sitzen sehen.

Es dauerte nicht lange, bis der Werber einen Beutel öffnete und zwei blank geputzte Taler auf den Tisch legte. „Mein lieber Freund“, sagte er zu mir, „ich muss dir sagen, dass ich deine Gesellschaft mehr genossen habe als alles, was mir diese Stadt zu bieten hatte. Deshalb gestatte mir bitte, nicht nur deine Zeche zu bezahlen, sondern dir auch etwas Geld für die Fortsetzung deiner Reise zu geben. Und vielleicht hast du ja auch Lust, in diesem schönen Gasthaus die Nacht zu verbringen?“

Bei diesen Worten blickte der Werber seine Begleiterin vielsagend an. Als hätte das als Andeutung noch nicht gereicht, nannte diese mich auch noch „mein Süßer“, faselte etwas von „gemeinsamen Stunden“ und strich mir aufdringlich durchs Haar.

Jetzt war es genug! Mit einem Ruck machte ich mich von der – in jeder Hinsicht – käuflichen Dame los. Schließlich musste ich ja auch darauf achten, dass sie meine weiblichen Formen nicht bemerkte. Von einem Augenblick zum anderen streifte ich die Maske der Trunkenheit ab, mit der ich die beiden genarrt hatte.

„Ich weiß sehr wohl, was das für Geld ist“, sagte ich langsam und betont. „Das ist das Handgeld, mit dem ich für die kaiserliche Armee gedungen werden soll. Ich werde dieses schmutzige Geld nicht anrühren, bin aber trotzdem bereit, mich zum Militärdienst zu verpflichten.“

Zwei erstaunte Augenpaare starrten mich an. Auf einmal war es ganz still an unserem Tisch. „Ja – dann bist du also gar nicht betrunken?“ fragte der Werber ungläubig.

„Meint ihr etwa, das bisschen Alkohol könnte einem Kerl wie mir etwas anhaben?“ gab ich keck zurück, auch um den Wirt nicht zu verraten.

„Aber – warum hast du uns dann dieses Theater vorgespielt?“ staunte der Werber.

„Weil ich hoffe, dass euch das eine Lehre ist“, entgegnete ich. „Was ist das denn für eine Art, anständige junge Burschen hinters Licht zu führen? Da seht ihr mal, wie man sich fühlt als Betrogener!“

„Zur Armee möchtest du aber trotzdem gehen?“ erkundigte sich der Werber vorsichtig.

Als ich dies bejahte, raunzte er: „Das hättest du doch auch gleich sagen könne!“

Ich grinste ihm gerade ins Gesicht – denn ich wusste ja, dass er auf mich angewiesen war. „Wäre ich direkt gefragt worden, hätte ich auch direkt geantwortet!“ stellte ich klar.

Er schluckte seinen Ärger herunter und setzte ein Schriftstück auf, mit dem ich mich zum Dienst bei der österreichischen Armee verpflichtete. Für meine Ankunft bei der Garnison setzte er mir eine Frist von 30 Tagen, was ich auch akzeptierte, weil ich ohnehin nicht vorhatte, den Eintritt in die Armee lange hinauszuzögern.

Youtube

Podcast, Episode 5: Während Carola den Anfang einer Romanze erlebt, verkleidet ihre Freundin Annie sich als Mann, um in die Armee einzutreten.


Bild: Richard Knötel (1857 – 1914): Angehörige des k.k. Infanterie-Regi­ments Nr. 4 im Jahre 1804 (Wikimedia com­mons)

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