Ein Spaziergang zum Gallenwall

Auszug aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens/1

Um dem engen Stiftsalltag zu entfliehen, unternimmt Carola, die Protagonistin aus Tina Reuters Roman Waisen des Lebens, mit ihrer Mitbewohnerin Philippine einen Spaziergang zum Gallenwall. Dabei tauschen sie sich über die Mode ihrer Zeit aus.

Ein herrlicher Morgen leuchtete vor dem Fenster. Als Carola in die frische Luft hinausschnupperte, schlug ihr ein so froher Vogelgesang entgegen, dass sich das Gefühl des Eingesperrtseins wie eine Dornenkette um ihr Herz legte. Es wurde noch dadurch verstärkt, dass nach zwei Regentagen wieder die Sonne schien und ihr der feine Duft in der Sonne trocknenden Herbstlaubs in die Nase stieg. Da draußen ist das Leben, dachte sie, und du bleibst nun bis ans Ende deiner Tage in diesem düsteren Gemäuer eingesperrt, als wärest du gar nicht da!

Ihr war, als würde ihr jemand den Hals zudrücken. Beim Gedanken an das freudlose Mittagessen mit den anderen Stiftsdamen, all diesen Phantomen, die das Leben längst ausgespien hatte, ohne dass der Tod sich ihrer schon erbarmen würde, stieg eine heftige Übelkeit in ihr auf. Sie musste raus, fort von diesem gespenstischen Ort, an dem die Wände Leichengift auszuströmen schienen und die Dielen ächzten unter der Last der lebenden Toten.

Ihr Vorhaben war im Prinzip nicht schwer auszuführen. Sie wusste zwar, dass die Pröpstin es nicht gern sah, wenn man sich den Zusammenkünften der Stiftsdamen entzog. Trotzdem konnte sie ihr ihre Bitte um Ausgang nicht ohne weiteres abschlagen – so streng waren die Regeln nun auch wieder nicht. Sie musste sich nur rechtzeitig bei ihr oder der Dechantin abmelden, damit die Köchin sich bei der Zubereitung des Mittagessens auf ihre Abwesenheit einstellen konnte.

Das eigentliche Problem bestand darin, dass sie nicht allein ausgehen konnte. Nicht nur, dass dies als unschicklich galt. Angesichts der fortdauernden Präsenz französischer Besatzungssoldaten in der Stadt wäre es auch nicht ganz ungefährlich gewesen. Immer wieder hörte man von Übergriffen, die entweder gar nicht oder nur nachlässig geahndet wurden, weil der Rat der Stadt viel zu große Angst vor dem Zorn der Besatzungsmacht hatte.

Als Begleiterin für den Ausflug kam im Grunde nur Philippine in Frage. Sie war gemeinsam mit Carola in das Stift aufgenommen worden und hatte als Einzige im Stift noch nicht die Ausstrahlung einer Scheintoten. Da sie weitläufig mit ihr verwandt war, kannte sie sie schon seit der Kindheit.

Carola seufzte. Von all den Freundinnen und Bekannten in ihrem Alter war Philippine diejenige, die sie für gemeinsame Aktivitäten so ziemlich als Letzte auswählen würde. Was sie besonders an ihr störte, war die Bedeutung, die sie Modeangelegenheiten beimaß. Wann immer sie auch nur gerüchteweise davon hörte, dass in der Pariser Damenwelt gerade dieses oder jenes Detail en vogue sei, musste sie ihr Äußeres auf der Stelle den neuen Vorlieben der Modemacher anpassen. Es war, als wäre sie nur ein Automat, der sich willenlos fremde Geschmäcker diktieren ließ und selbst über keinerlei ästhetisches Empfinden verfügte.

Erschwerend kam hinzu, dass Philippine nicht gerade mit der Gabe natürlicher Schönheit gesegnet war. Anstatt blindlings jeder Mode zu folgen, wäre es für sie sicher vorteilhafter gewesen, die Disharmonie ihrer körperlichen Proportionen durch eine geschickte Wahl der Kleidung zu kaschieren. In der rosa Chemise, die sie neuerdings mit Vorliebe trug, wirkte ihr beleibter Körper besonders plump. In Verbindung mit den künstlichen Locken, die sie sich in letzter Zeit in ihr Haar steckte und die ihr tief in die Stirn fielen, wies ihr Äußeres eine auffallende Ähnlichkeit mit bestimmten Hausschweinen auf.

Zu allem Überfluss band Philippine die Chemise unter der Brust auch noch mit einer roten Schleife ab, so dass ihr fülliger Busen darüber wallte und wogte wie ein Schiff in Seenot. Da der Ausschnitt sehr weit war und die Chemise in einer ziemlich langen, das Gehen behindernden Schleppe auslief, war es durchaus denkbar, dass das eingezwängte Fleisch sich eines Tages den Weg in die Freiheit bahnen und zum Gegenstand eines unsäglichen Skandals werden würde.

Natürlich war eine derartige Kleidung im Stift verpönt und wäre unter keinen Umständen von der Pröpstin geduldet worden. Andererseits wusste Carola genau: Weder ihr noch Philippine hätte der Ausflug in die freie Welt vor den Toren des Stifts Freude bereitet, wenn sie dort durch die dunkle Sackkleidung der Stiftsdamen ihren Ausschluss von allen irdischen Vergnügungen bezeugt hätten.

Gemeinsam beschlossen sie daher, die Zeit des Mittagessens abzuwarten und das Stift genau zur Zeit des Tischgebets zu verlassen. Dann nämlich, so wussten sie, würde einer über die Tischgesellschaft wachen, der noch mächtiger war als die Pröpstin und den sie in diesem Fall als ihren Verbündeten betrachten durften: Gottvater höchstpersönlich, dem die Anwesenden ihre volle Aufmerksamkeit widmen und der sie so davon abhalten würde, dem verräterischen Knarren der Holzdielen Beachtung zu schenken.

Und wirklich, sie hatten sich nicht getäuscht: An dem weihevollen Gemurmel vorbei konnten sie sich unbemerkt nach draußen schleichen!

Nachdem Carola den Vormittag in der Gruft des Stiftes verbracht hatte, machte sie das rege Treiben in den Straßen zunächst etwas benommen. Schließlich dauerte die Herbstmesse noch zwei Tage. So brandeten ihnen gleich vor den Toren des Stifts die Rufe der Händler und das Stimmengewirr der zahlreichen Flaneure entgegen.

Als sie in die Nähe des Gallustores kamen, war von der anderen Seite der Stadtmauer her lautes Geschrei zu vernehmen. Nachdem Carola und Philippine das Tor passiert hatten, erkannten sie sogleich die Ursache des Tumults: Drei Damen stritten mit dem städtischen Torwächter, der sie offenbar nicht passieren lassen wollte. Der französische Unteroffizier, der von der Kommandantur zusätzlich zum Wachdienst beordert worden war, versuchte zu vermitteln, wurde jedoch ganz offensichtlich von seinem deutschen Kollegen nicht verstanden.

Der rote Federbusch, der von der Kokarde an dem Helm des Franzosen aufragte, wogte aufgeregt hin und her, so wild gestikulierte er, doch alle Anstrengungen waren vergeblich: Der andere hatte die Arme vor der Brust verschränkt und verschanzte sich mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck unter seinem Dreispitz. Als die Damen ihm die Argumente des Franzosen zu übersetzen versuchten, erklärte er einsilbig: „Des interessiert mich net. Der Franzos hat hier nix zu sage.“

Der Anlass des Ärgers war, wie Carola und Philippine nach kurzem Zuhören erfuhren, die Kleidung der Damen. Diese bestand aus nichts als einem durchsichtigen Kleid, das mehr einem Gazeschleier als einer Chemise glich und unter dem für alle Augen sichtbar kein Unterrock den Blick auf die üppigen Körperformen verdeckte. Der Frankfurter Torwächter bestand darauf, dass die Damen sich erst etwas unter- oder überziehen müssten, ehe er sie in die Stadt lassen könne. Andernfalls würden sie den guten Ruf der Stadt beschädigen, der gerade zur Zeit der Messe in besonderem Maße zu schützen sei.

„Awwer mir sin doch aa aus de Stadt rausgekomme, ohne dass ma sich an unserer Kleidung gestört hädde!“ hielt ihm eine der Damen, schon etwas aufgelöst, entgegen. Offenbar hatte der Diensthabende, der bis zur Wachablösung am Mittag am Tor gestanden hatte, in der Kleidung der Damen kein öffentliches Ärgernis gesehen.

Der Franzose unterstützte die Position der drei Damen in diesem Punkt: „Mais mon cher collègue“, redete er auf den anderen ein, „ein wenig mehr Mitgefühl für les belles, wenn ich Sie darf bitten!“ Dabei zwinkerte er den Damen zu, worauf diese mit einem koketten Lächeln antworteten.

„Man muss sich wirklich für seine Landsleute schämen!“ bemerkte Philippine, als sie sich ein paar Schritte vom Tor entfernt hatten. „Was hätten die drei denn tun sollen? Vor dem Tor Wurzeln schlagen? Oder sich vielleicht in Kutscherdecken hüllen?“

„Du hast schon Recht“, entgegnete Carola. „Andererseits darf man sich aber auch nicht wundern, wenn man in so einem Aufzug Aufsehen erregt.“

„Aber ich bitte dich!“ entrüstete sich Philippine. „So etwas ist doch heutzutage ganz normal. Und ich bin heilfroh, dass es so ist – oder möchtest du dich etwa wieder so einschnüren müssen wie unsere Mütter?“

„Nein, natürlich nicht“, gestand Carola ihr zu. „Ich genieße die neue Freiheit der Mode ja auch. Allerdings glaube ich nicht, dass sie durch das Tragen eines Unterrocks unverhältnismäßig eingeschränkt wird.“

„Wenn du es genau wissen willst“, erklärte Philippine trotzig, „ich trage meinen Unterrock auch nur deshalb, weil ich unsere Frau Pröpstin vor einem Herzanfall bewahren will. Ohne fühlt man sich doch viel freier!“

„Das mag ja sein“, räumte Carola ein. „Ich frage mich nur, warum das bloß für Frauen gelten soll. Die Männer müssten sich doch auch freier fühlen, wenn sie sich mit durchsichtigen Gewändern in der Öffentlichkeit zeigen dürften.“

Philippine kicherte. „Also du hast Ideen! Würde dir das etwa gefallen, wenn die Männer ihre eleganten Jacken ablegen und in Frauenkleidern herumlaufen würden?“

„Nein, wohl kaum. Aber vielleicht“, merkte Carola herausfordernd an, „ist das ja nur eine Frage der Gewöhnung, und wir würden uns am Ende sehr wohl daran ergötzen, die Männer ebenso mit Blicken aufzufressen wie sie uns.“

Das Gespräch verstummte, da nun der Weg ihre volle Aufmerksamkeit verlangte – der Regen hatte den sandigen Untergrund völlig aufgeweicht. Da er zudem noch ausgiebig von Pferdehufen umgepflügt worden war, hatten sich an zahlreichen Stellen ansehnliche Pfützen gebildet, in denen man teilweise bis zu den Knöcheln einsank.

Besonders unangenehm war das für Philippine, in deren Schleppe sich die Drecksklumpen verfingen wie Fische in einem engmaschigen Netz. Sie versuchte deshalb, die Schleppe hochzuraffen, auch wenn sie dazu eine unbequeme, leicht zur Seite gebeugte Haltung einnehmen musste. Denn die Schleppe war zwar lang, aber doch nicht lang genug, um sie ohne nennenswerte Einbußen in der Länge des Kleides aufzuheben. Kürzere Kleider aber waren durchaus nicht in Mode.

Sie ließen sich am Ende der Allee auf einer Bank nieder, so dass sie in sie hineinsahen wie in einen dieser Guckkästen, die zuweilen auf Märkten ausgestellt wurden. Die Sonne schien schräg durch die raschelnden Herbstblätter und ließ auf dem Boden der Allee einen bizarren Tanz aus Schatten und Lichttupfern entstehen. Dazwischen lustwandelten in Gruppen von zwei bis vier Personen die Spaziergänger. Ihre Versuche, den Pfützen auszuweichen, sahen von ferne aus wie höfische Tanzfiguren und fügten sich so vorzüglich in das Spiel der Lichter ein.

Ebook (Neuausgabe)

Materialienband zum Roman

Podcast, Episode 1: Die ersten Tage in dem Damenstift erlebt Carola als äußerst beengend. Wird die Zufallsbekanntschaft mit dem Gelehrten Friedrich ihr einen Ausweg weisen?

Bilder: Johann Friedrich Beer (1741 – 1804): Die neuen Wallanlagen vor dem Gallus­tor (früher „Galgentor“), 1794 (Bildunterschrift: „Prospect und Plan des von Löblicher Bürgerschaft neu auf getragenen Gallen Wall, und der darauf neu angelegten geschmackvollen Linden und Pappeln Allee“); Frankfurt, Goe­themuseum, Freies Deutsches Hochstift; Landesgeschichtliches Informations­system Hessen (lagis-hessen.de); James Gillray (1756 – 1815): The Graces in a High Wind (Die Grazien bei starkem Wind, 1810). London, Na­tional Portrait Gallery (Wikimedia commons)

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