Glaubensträume

Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Das russische Labyrinth

Ihr Weg in das Labyrinth ihrer Vergangenheit führt Sylvia auch in ein russisches Kloster. Staunend taucht sie in die fremde Glaubenswelt ein (Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Das russische Labyrinth).

Wehrhafte Frömmigkeit

Das Erste, was Sylvia an der Klosteranlage auffiel, als der Bus mit der Reisegruppe darauf zufuhr, war die eigenartige Mischung aus Wehrhaftigkeit und tiefer Frömmigkeit, die sie ausstrahlte.
Zwar prägten die goldenen und blauen Kirchenkuppeln, säulendurchsetzten Fassaden und kühn geschwungenen, wie betende Hände nach oben zeigenden Türme das Bild. Die Umfassungsmauern ließen jedoch mit ihrem überdachten Wehrgang, den Schießscharten und den dickbäuchigen Wachtürmen keinen Zweifel an der Bereitschaft zum Kampf gegen jene, die sich dem Kloster in feindlicher Absicht näherten. Selbst der schlanke Glockenturm, der mit seiner goldenen Spitze alle anderen Bauten überragte, schien die Verheißung des Himmelreichs mit der Warnung an jene zu verbinden, die dem hier eingeschlagenen Weg zum Reich Gottes nicht folgen wollten.
Nachdem der Bus einen Parkplatz angesteuert hatte, auf dem bereits zahlreiche andere Busse standen, sammelte die Führerin ihre Schäfchen mit einstudierter Freundlichkeit zum Rundgang durch das Kloster. Sylvia legte auf die goldenen Worte allerdings keinen Wert und erkundigte sich nur kurz, für wann die Rückfahrt geplant sei. Dann machte sie sich auf den Weg zu der Kathedrale, die sie auf dem Bildschirm in der Wohnung des Ermordeten gesehen hatte.
Das imposante Bauwerk konnte sie gar nicht verfehlen. Mit ihrer goldenen Kuppel, die rechts und links von je zwei himmelblauen, sternenbesetzten Zwiebeltürmen flankiert war, bildete die Kathedrale das nicht zu übersehende Herzstück der Klosteranlage.
Dennoch machte sich in Sylvia Enttäuschung breit, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Unbewusst hatte sie gehofft, durch den Anblick der Kathedrale irgendeinen Hinweis zu finden, der sie der Lösung ihres Rätsels näherbringen würde. Die Touristenströme, die den von Weitem so mysteriös wirkenden Ort in eine Art Disneyland des russischen Glaubens verwandelten, beraubten sie dieser Hoffnung jedoch augenblicklich.
Etwas anders verhielt es sich, als sie das majestätische Kirchengebäude betrat. Im Innern der Kathedrale umfing sie ein nur von wenigen Lichtern und Kerzen durchbrochenes Halbdunkel. Da an jenem Tag die Sonne schien, brauchten ihre vom funkelnden Schnee geblendeten Augen einige Zeit, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Dies verstärkte ihren Eindruck, die Schwelle zu einer anderen Welt übertreten zu haben.
Auch die heilig-strengen Ikonen, die sie unbewegt anstarrten, entfalteten so ihre volle Wirkung. Eine jede von ihnen erschien Sylvia wie ein Fenster, das den Blick auf ein tiefes Geheimnis lenkte, dieses aber gleichzeitig vor dem forschenden Auge verbarg. Auch die Exkursionsgruppen schienen sich der Ehrfurcht gebietenden Aura des Ortes nicht entziehen zu können. Wie von einer unsichtbaren Hand berührt verharrten sie am Eingang, ehe sie sich langsam in die fremde Welt vortasteten. Am Spielfeldrand stehend, beäugten sie befremdet das Spektakel eines Glaubens, den sie selbst längst verloren hatten.
Mit uneingestandenem Neid verfolgte Sylvia die Sicherheit, mit der die Gläubigen vor den Ikonen Kerzen anzündeten, ihr Kreuzzeichen machten – von rechts nach links, wie bei den Orthodoxen üblich – und leise Gebete oder Fürbitten vor sich hin murmelten. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie in der Kirche umhergingen, ermutigte Sylvia andererseits aber auch dazu, sich selbst ein wenig freier darin zu bewegen.
Die Suche nach einem Ausweg aus ihrem Labyrinth, die doch der Grund für ihre Fahrt zu der Klosteranlage gewesen war, verlor sie dabei allerdings aus den Augen. Die weihevolle Atmosphäre, die stummen Ikonenwächter und nicht zuletzt die geschlossene „Königstür“ vor dem Allerheiligsten, die wie ein unausgesprochenes Verbot wirkte, ließen jeden Blick, der nicht dem Weg des Glaubens folgte, sogleich als blasphemisch erscheinen.
Besonders hingezogen fühlte Sylvia sich zu einem Bildnis der Muttergottes, die den Betrachter mit schmerzlich-sanftem Lächeln und dunkel-verträumten Augen ansah. Ihr wichtigstes Merkmal waren aber wohl die drei Hände, die aus ihrem Sternenumhang herauswuchsen: Auf einer ruhte der kleine Heiland in seinem Königsgewand, mit der zweiten wies sie auf das Wunder dieser Geburt hin. Die dritte Hand schien, dem Himmel zugewandt, wie zum Beweis der Übersinnlichkeit des Ereignisses ihrem Schoß zu entspringen.

Ein geheimnisvoller Gottesdienst

Frustriert trat Sylvia nach einer Weile wieder ins Freie. Überzeugt davon, einer falschen Spur gefolgt zu sein, wollte sie die Klosteranlage sofort wieder verlassen. Schließlich entschied sie sich aber doch dazu, die Abfahrt des Exkursionsbusses abzuwarten. Die Rückfahrt in die Stadt wäre mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr langwierig, mit dem Taxi jedoch ausgesprochen teuer gewesen.
Schlecht gelaunt mischte sie sich unter eine andere, englischsprachige Reisegruppe. Sie wurde von ihrer Führerin gerade zu einem Brunnen geleitet, über den sich ein von blau-weißen Säulen getragener Baldachin wölbte. Im Sommer hätten, so war zu erfahren, die Augenkranken durch die heiltätige Wirkung des Quellwassers, das in der wärmeren Jahreszeit in den Brunnen geleitet wird, ihr Leiden lindern können. So aber mussten die Anwesenden leider ihre Gebrechen behalten oder in einem der Andenkenläden für teures Geld ein Fläschchen mit dem kostbaren Nass erstehen.
Als endlich der Höhepunkt des Tages – der Gottesdienst – eingeläutet wurde, beschlich Sylvia noch stärker als zuvor das Gefühl, in einen fremden, ihr unverständlichen Kosmos eingetaucht zu sein. Dazu trug nicht zuletzt die Eigenart der orthodoxen Liturgie bei, das eigentliche Geheimnis der Messe – die Wandlung – konsequent den Blicken der Gläubigen zu entziehen.
Sylvia wusste sehr wohl, dass dies dazu diente, den Charakter religiöser Wahrheiten als nur zu glaubenden, nicht durch den Augenschein zu bestätigenden Wahrheiten zu unterstreichen. In ihrer Situation empfand sie die Verhüllung des Allerheiligsten jedoch als Bestätigung für ihren Ausschluss von der heiligen Feier.
Von dem eigentlichen Anfang des Gottesdienstes, bei dem hinter der verschlossenen Königstür – einer prachtvoll verzierten Schwingtür – die Gaben vorbereitet wurden, war nur durch eine sich allmählich in der Kirche ausbreitende Unruhe etwas zu spüren. Für alle sichtbar wurde der Beginn der Zeremonie erst mit der Öffnung der Königstür und des dahinter befindlichen Vorhangs durch den Diakon.
In seinem bis auf den Boden reichenden, von zahlreichen Kreuzen durchsetzten Gewand und der darüber hängenden Schärpe, auf die ebenfalls mehrere Kreuze gestickt waren, schritt der Geistliche den Altarraum und die Reihe der Ikonen ab. Dabei bestäubte er alles mit einem feinen Weihrauch, indem er das kugelförmige Räucherfass in seiner Hand mit geübtem Griff hin und her schwenkte. Auch die Gläubigen wurden in diesen Duftstrom getaucht, so dass sich schon bald ein würziger Geruchsnebel in der Kirche ausgebreitet hatte.
Nach diversen Gebeten und rituellen Handlungen, die sich teilweise wieder den Blicken entzogen, erreichte der Gottesdienst seinen ersten Höhepunkt: Durch die von der Gemeinde aus gesehen linke Tür in der Ikonenwand trat ein Diakon vor die Gemeinde, der einen kostbaren Leuchter in der Hand hielt. Ihm folgten ein weiterer Diakon mit der Bibel sowie der Priester.
Im Unterschied zu den Diakonen trug der Priester einen Umhang über seinem Gewand und auf dem Kopf eine breite Kappe. Nachdem die Bibel auf dem Altar abgelegt worden war, gab es weitere Gebete und Lesungen, die in einer Art Wechselgesang zwischen dem Lektor und einem Chor alter Frauen erfolgten.
Zusammen mit dem Weihrauch, den der Diakon nun abermals versprühte, führte der gleichmäßige Singsang bei Sylvia zu einer leichten Bewusstseinstrübung. Den Rest des Gottesdienstes nahm sie deshalb nur noch wie eine Folge von Traumbildern wahr. Gerade dadurch allerdings brannten sich manche Elemente der Zeremonie besonders tief in ihr Gedächtnis ein.
So erging es ihr etwa mit dem Weihrauchfass, das mit dem Finger des Diakons verwachsen zu sein schien, oder dem geheimnisvollen Glockenton, der von irgendwoher erklang, als der Kelch und die Schale mit dem Brot zum Altar getragen wurden. Alles, was sie sah, war auf einmal mit tiefer Bedeutung erfüllt.
Wie von Geisterhand bewegt, als wehte der Atem Gottes durch den Raum, flatterte ein Tuch über den heiligen Gaben. Geduldig warteten die Gläubigen auf das Unmögliche. Ehrfürchtig kreuzten sie ihre Hände über der Brust, als sie den Kelch empfingen, in den der Priester zuvor Teile des Abendmahlsbrotes gekrümelt hatte.
Im Anschluss an den offiziellen Teil der Messe wurde noch das so genannte „Antidoron“ verteilt. Dabei handelte es sich – wie Sylvia von einer deutschen Teilnehmerin der Reisegruppe erfuhr – um vom Priester nur gesegnete, nicht aber der Wandlung unterworfene Teile des heiligen Brotes. Diese durften auch von denjenigen empfangen werden, die nicht getauft waren.
Der Andrang vor dem Altar war sehr groß, zumal auch getaufte Gläubige sich noch einmal in die Schlange der Wartenden einreihten, um vom Priester persönlich gesegnet zu werden. Da Sylvia vom langen Stehen die Beine wehtaten und sie auch keine Lust hatte, Hostien zweiter Klasse zu empfangen, beschloss sie, bis zur Abfahrt des Busses vor der Kirche auf und ab zu gehen.

Podcast

Podcast, sechste und letzte Episode: Sylvia gelingt es, die Tür zu dem Geheimnis zu öffnen, dem sie auf der Spur ist. Hinter der Tür aber erwartet sie eine Wahrheit, die ihr Leben bedroht.

Buch

Bild: Nikolai Dubowski (1859 – 1918): Das Troize-Sergijew-Kloster (Sergius-Dreifaltigkeits-Kloster: Kloster der Dreifaltigkeit und des Heiligen Sergius) im 70 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Sergijew Possad (1917); Wikimedia commons

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