Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Das russische Labyrinth
Auf ihrer Reise in die Vergangenheit ist Sylvia in ihrem Sessel eingeschlafen. In ihren Träumen taucht Aljoscha als weißer Ritter auf, der einer besonders unheimlichen – weil wirklichkeitsnahen – Hexe nachjagt (Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Das russische Labyrinth).
Sylvia schlug erschrocken die Augen auf. Im nächsten Moment fasste sie sich reflexartig an den Nacken. Schmerzhaft erinnerte er sie daran, dass sie doch tatsächlich in ihrem Sessel eingenickt war.
Draußen hatte sich mittlerweile der Mond durch die Wolken gewühlt. Nun tastete er mit seinem fahlen Auge über die bizarren Gebilde, die das Schneegestöber aufgetürmt hatte. Das passte gut zu dem wilden Bilderreigen, der Sylvias Schlaf durchflackert hatte.
Aljoscha war darin auf einem weißen Pferd durch den Wald geritten. Er trug eine ebenso weiße Ritterrüstung, so dass er unter den schneebedeckten Bäumen fast unsichtbar war.
Der Baba Jaga, die er aus dem Wald vertreiben wollte, konnte er sich so wie unter einer Tarnkappe nähern. Sie bemerkte ihn erst, als schon die kalte Spitze seiner Lanze über ihren Hals strich. Erschrocken sprang sie aus ihrem Haus, dessen Hühnerbeinstelze dabei in tausend Stücke zerbrach.
Aljoscha aber setzte ihr nach, um sie für immer aus dem Land zu vertreiben. Immer weiter jagte er hinter ihr her, bis sie an das Ende der Welt gelangten. Kurz bevor die Baba Jaga aber aus der Welt herabstürzte in die ewige Nacht, drehte sie sich noch einmal um.
Da war auf einmal deutlich zu erkennen: Dies war gar nicht das Gesicht der Baba Jaga! Ihre Züge glichen eher denen von Wladimir Putin.
Gleich darauf nahm das Gesicht jedoch erneut eine andere Gestalt an. Im Mondschein verschwamm es zu einer unheimlichen Fratze, die keiner bestimmten Person mehr zuzuordnen war. Das Gesicht hatte etwas Vexierbildhaftes an sich. Es war wie ein Hohlspiegel, in dem alle das sahen, was für sie am bedrohlichsten war.
Seltsam war auch, dass sich in dem Gesicht keinerlei Schrecken oder gar Entsetzen spiegelte, obwohl es doch im nächsten Augenblick in die ewige Finsternis hinabfallen musste. Stattdessen umspielte ein boshaftes Grinsen die Lippen.
Der Grund dafür enthüllte sich bei einem Blick auf die Blutspur, welche die Baba Jaga hinter sich hergezogen hatte. Das Blut versickerte nämlich keineswegs im Schnee. Vielmehr schien dieser wie eine Art Dünger für die Blutstropfen zu sein. Wo immer sie auf die eisige Masse trafen, begannen sie zu wachsen und sich schließlich wie lauter kleine Blutegel zu regen.
Den Blutegeln aber wuchsen rasch kleine Beinchen und Ärmchen, mit denen sie sich selbst in die Länge zogen, bis sie die Größe ihrer verstoßenen Herrin erreicht hatten. So entstand aus den Blutstropfen eine ganze Armee von Baba Jagas – und alle hatten sie dasselbe höhnische Grinsen auf dem Gesicht wie ihre aus der Welt geworfene Gebieterin.
Mit einem Fingerschnippen ließen die neuen Baba Jagas überall im Wald neue Hütten auf Hühnerbeinstelzen aus dem Boden wachsen. Statt von einer einzigen Baba Jaga war der Wald nun also von Tausenden von Baba Jagas bevölkert.
Sylvia lief es noch immer kalt den Rücken herunter, wenn sie an das unheilvolle Blitzen in den Augen der Baba-Jaga-Armee dachte. Sie überlegte kurz, ob sie versuchen sollte, den Alptraum mit einem anderen, angenehmeren Traum zu verdrängen. Aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass der Morgen schon bald grauen würde. Außerdem konnte sie sich ja auch nicht sicher sein, dass der Traumgott ihrem Wunsch nach versöhnlicheren Bildern entsprechen würde.
Buch

Hörfassung

Podcast, fünfte Episode: Sylvia reist nach Moskau und gelangt dort auf abenteuerliche Weise an neue Informationen in ihrem Fall. Außerdem trifft sie dort auf eine Überlebende der Leningrader Blockade.
Bild: Wiktor Wasnezow (Viktor Vasnetsov; 1848 – 1926): Die Baba Jaga (1917); Wikimedia commons