Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Das russische Labyrinth/2
Sylvia, die Protagonistin aus Nadja Dietrichs Roman Das russische Labyrinth, wird es Mordes an einer Mitreisenden verdächtigt. Als sie mit ihrem Bekannten Aljoscha über den Markt schlendert, tauchen plötzlich Polizisten mit einem Fahndungsfoto von ihr auf.
In der Markthalle
Der „Krýty Rýnok“ (überdachte Markt), wo Aljoscha Sylvia ihre Besorgungen erledigen lassen wollte, gehörte zu den älteren, teils neoklassizistischen Gebäuden, die sich im Zentrum der Stadt an der Wolga noch fanden. Er bestand aus einer einzigen großen Halle, über die sich hinter einem Längsbau an einem Ende eine runde Kuppel wölbte, die entfernt an eine Moschee erinnerte – möglicherweise ein Nachklang der tatarischen Kultur, von der die frühen Siedlungen in der Gegend geprägt waren.
Die weißen Mauern waren von riesigen Fensterfronten durchschnitten, hinter denen sich auf der oberen Etage eine Art Wandelhalle entlangzog, in der diverse Händler in unterschiedlich großen Nischen ihre Waren feilboten. Unten war die Halle jedoch durch keinerlei Wände oder Absperrungen begrenzt. Hinter dem Eingang, wo die Bettler ein dichtes Spalier bildeten, sah sich Sylvia daher von einem wahren Strudel aus Stimmen, Farben und Gerüchen empfangen.
Ein großer Teil derjenigen, die in den Gängen zwischen den Ständen umherschlenderten, hatte ganz offensichtlich weder die Absicht noch die Möglichkeit, größere Einkäufe zu tätigen. Für viele erfüllte die Halle wohl eher die Funktion eines überdimensionalen Stalls, in dem die gesammelte Körperwärme der anderen Schutz bot vor dem eisigen Wind, der das Gebäude von allen Seiten umpfiff.
Für manche erfüllte der Schutz der Menge wohl auch die Funktion, in einem unbemerkten Moment einen kleinen Mundraub zu begehen. Wie Aljoscha augenzwinkernd erzählte, machten sich daneben insbesondere die Studentinnen der Stadt einen Sport daraus, die Händler zu bezirzen und so ihr karges Auskommen durch kleine Nahrungsspenden aufzubessern.
Für ihre Erledigungen musste Sylvia sich in die obere Etage begeben, zu der direkt neben dem Eingang eine Treppe hinaufführte. Die von ihr aufzusuchenden Läden befanden sich jedoch auf der gegenüberliegenden Seite. Aljoscha schlug daher vor, die Halle der Länge nach zu durchqueren. Da sie auf diese Weise noch etwas von der Basar-Atmosphäre mitbekommen konnte, willigte Sylvia sogleich in den Vorschlag ein – was, wie sich noch herausstellen sollte, ein verhängnisvoller Fehler war!
Sie gingen an dem Stand mit der traditionsreichen „Rotfront“-Schokolade vorbei und begaben sich dann in eine Gasse, in der vorwiegend Milchprodukte verkauft wurden. Ein altes Mütterchen stand vor riesigen Butterblöcken und zeigte der Verkäuferin mit den Fingern, wie klein das Butterstück zu schneiden sei, damit sie es sich von ihrer schmalen Rente leisten könnte.
Nebenan sah Sylvia eine andere Verkäuferin eine krümelige weiße Masse – laut Auskunft von Aljoscha eine Art Quark – in eine Plastiktüte füllen. Zusammen mit zwei Flaschen Milch – vielleicht war es auch Kefir – legte sie die Tüte dann behutsam in die Einkaufstasche, die ihr ein bärtiger alter Mann hinhielt. Auch Eier wurden vorsichtig in kleinen Tüten verstaut. Manche hatten aber auch einen jener Plastik-Eierkoffer bei sich, die vorgestanzte Ausbuchtungen zum Einlegen der Eier aufwiesen.
„Ein echtes Verbrecherfoto“
Als sie eben den breiten Quergang hinter sich gelassen hatten, der die Gassen in der Mitte der Halle durchschnitt, tauchte auf einmal eine ganze Armee von Polizisten vor ihnen auf. Paarweise gingen sie durch die Verkaufsgassen und deponierten an jedem Stand einen Packen mit Zetteln im DIN-A-4-Format. Hier und da wurden sie in kürzere Gespräche verwickelt, so dass sie sich nur langsam auf Aljoscha und Sylvia zubewegten. Als sie sich auf einer Höhe mit ihnen befanden, blickte Sylvia instinktiv zur Seite und tat so, als würde sie sich für die Fleischpasteten, Schinkenrollen und Salamiwürste interessieren, die dort auslagen.
Aljoscha griff derweil nach einem der Zettel und studierte ihn mit einer Mischung aus Erschrecken und kühler Aufmerksamkeit. Dadurch sah Sylvia sich in ihren schlimmsten Ahnungen bestätigt.
„Du scheinst nicht sonderlich beliebt zu sein bei uns“, bemerkte er schließlich, indem er ihr den Zettel unauffällig hinhielt.
Erschrocken starrte Sylvia auf das mehrfach vergrößerte Passfoto, das sie für ihr Visum hatte machen lassen. Sie wusste noch genau, was sie gedacht hatte, als sie das Foto aus dem Automaten gezogen hatte: „Ein echtes Verbrecherfoto!“
Nun zierte das Foto eine behördliche Bekanntmachung, und darunter standen Worte in kyrillischer Schrift, die sie auf die Schnelle nicht entziffern konnte. Nur die fett gedruckten Passagen brannten sich in ihr Gehirn ein. Dies jedoch war – in Verbindung mit dem Bild und den Worten Aljoschas – ausreichend, um zu begreifen, um was es ging: „ubístwo“ – „Mord“ – las sie, und: „10.000 rubljéj“.
Sie stammelte irgendetwas von „Irrtum“, „Verwechslung“ und „Ich kann alles erklären“, aber Aljoscha sagte nur: „Nicht jetzt.“ Er bewegte sich etwas von ihr weg und suchte nach einem Ausgang, der nicht von Polizisten bewacht war. Sekunden später fasste er Sylvia fest um die Taille, als wären sie zwei frisch Verliebte, und flüsterte ihr ins Ohr: „Zieh dir die Mütze über den Kopf und lehn dich fest an mich – ich versuche dich nach draußen zu bringen.“
Auf dem Weg zum Ausgang fühlte Sylvia sich wie in heftige Stromschnellen geratenes Treibgut. Den Blick auf den Boden geheftet, sah sie nichts als Schlamm und Nahrungsreste, über die sich Stiefel und Mäntel in Schwindel erregendem Tempo hinwegbewegten. Immer wieder stießen sie mit Passanten zusammen, die ihnen einen Fluch hinterherschickten, wenn sie unbeirrt ihren Weg fortsetzten.
Einmal geriet Sylvia sogar wegen eines vorgeschobenen Ladentischs ins Straucheln. Wenn Aljoscha sie nicht so fest umschlungen hätte, hätte sie den Tisch womöglich umgestoßen. In dem allgemeinen Aufruhr, der dann entstanden wäre, hätte sie sich der Entdeckung wohl kaum entziehen können. So aber strebten sie zügig dem rettenden Ausgang entgegen.
Sie hatten bereits den kleinen Vorplatz vor dem Ausgang erreicht, als Aljoscha Sylvia plötzlich zur Seite zog und ihre Schritte in die Halle zurücklenkte. Unwillkürlich hob sie für Bruchteile von Sekunden den Kopf – und erschrak so heftig, dass sie sich einen erstickten Aufschrei nicht verkneifen konnte: Sie blickte direkt in die toten Augen eines Rinderkopfs, den ein Metzger als makabre Werbung auf seinem Ladentisch aufgebahrt hatte. Die Haut war abgezogen worden, aber die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, und die Fleischreste klebten in blutigen Fetzen zwischen den Gesichtsknochen.
Aljoscha kniff sie in den Arm. „Pssst – Bullen“, raunte er ihr zu – womit er allerdings nicht den Rinderkopf meinte. Als Sylvia ihm später von dem Grund für ihren Aufschrei erzählte, erklärte er ihr lachend, dass die Rinderköpfe eine vorzügliche Bouillon abgäben und wegen des erschwinglichen Preises bevorzugt von Rentnerinnen gekauft würden.
Da sie sich nun in einer Seitengasse befanden, in der vorwiegend Metzger ihre Stände hatten, mischten sich in den von draußen hereingetragenen Schlamm immer wieder kleinere Blutlachen. Unter dem unablässigen Getrampel der Stiefel vermischten sie sich rasch mit der braunen Erde und verblassten schon nach kurzer Zeit zu rostbraunen Flecken.
Wenn Sylvia von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick zur Seite wagte, konnte sie aufgeschnittene Schweinekörper erkennen, die hinter den Ständen von breiten Haken herabhingen. Machten sie vor einzelnen Tischen Halt, um entgegenkommenden Milizionären auszuweichen, vermischte sich der Geruch von abgehangenem Fleisch mit dem würzigen Duft von Speck und Würsten, die vorne an den Ständen zum Kauf angeboten wurden.
Auch vor dem Seitenausgang, auf den sie sich nun zubewegten, wären sie beinahe mit einer Gruppe von Milizionären zusammengestoßen. Allerdings kam ihnen nun zugute, dass hier unmittelbar neben der Tür Verkaufsstände aufgebaut waren. So konnten sie sich, ohne Verdacht zu erregen, einfach so lange zur Seite drehen, bis die Uniformierten an ihnen vorbeigegangen waren.
Es war zwar nicht einfach, den Blicken der Verkäuferinnen auszuweichen, die ja alle Sylvias Fahndungsfoto vor sich auf den Tischen liegen hatten. Aljoscha gelang es aber, sie in ein Gespräch über die hohen Standgebühren zu verwickeln und so ihre Aufmerksamkeit von dem Foto abzulenken.
Aljoschas List
So gelangten sie schließlich auf das Gelände des äußeren Marktes, wo Babuschkas mit eingelegtem Gemüse ihre Rente aufzubessern versuchten und Händler ohne festen Marktstand der Kälte trotzten. Auch hier bot sich jedoch dasselbe Bild wie drinnen in der Halle: Überall waren die blauen Mäntel und Mützen der Gesetzeshüter zu sehen. Sylvia fühlte sich wie auf einem Karussell, das sich immer schneller und schneller dreht, bis schließlich nicht mehr zu erkennen ist, ob die einzelnen Realitätsfetzen nun ständig wiederkehren oder stillstehen.
Nachdem sie eine Zeit lang zwischen den Ständen umhergeirrt waren, führte Aljoscha Sylvia zu dem Obststand eines kaukasisch aussehenden Händlers, mit dem er augenscheinlich näher bekannt war. Unauffällig wechselte er ein paar Worte mit ihm, die Sylvia nicht verstand. Im nächsten Augenblick zog Aljoscha sie mit sich unter den Verkaufsstand, über den eine breite Plastikdecke gespannt war.
„Pass auf“, erklärte er ihr in der kleinen Höhle, „wenn wir einfach so weitergehen, haben wir keine Chance – es sind einfach zu viele Uniformierte da. Sie scheinen in den einzelnen Verkaufsgassen zu patrouillieren. Ich werde jetzt versuchen, die beiden Milizionäre in der Gasse gegenüber abzulenken – ich sage ihnen einfach, ich hätte dich auf der anderen Seite des Marktes gesehen. Du kannst von hier aus alles beobachten. Wenn du siehst, dass die Polizisten abziehen, läufst du so schnell du kannst in die Wohnung auf den Boulevard vor der Markthalle – du findest doch den Weg?“
Sobald Sylvia dies, wenn auch zögernd, bejaht hatte, stürzte Aljoscha sich in das Marktgetümmel. Durch die herabhängenden Enden der Plastikdecke hindurch versuchte Sylvia ihn im Blick zu behalten. Leider war aber wegen des regen Betriebs vor den Verkaufsständen kaum etwas zu erkennen.
Plötzlich hob jemand von hinten die Plastikdecke hoch. Sylvia wäre fast das Her stehen geblieben. So, dachte sie, das war’s dann, ich bin geliefert! Es war jedoch nur der kaukasische Händler, der ihr ein paar Granatapfelkerne in die Hand drückte. Dabei teilte er ihr mit seinem schleppenden Akzent etwas mit, das sie zwar nicht verstand, durch seine reiche Gestik aber leicht erraten konnte: Die Luft war rein, sie konnte gehen! Ohne Probleme fand sie den Weg aus dem Marktlabyrinth und tauchte wenige Augenblicke später in dem Menschenstrom auf dem breiten Boulevard vor der Markthalle unter.
Hörfassung

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Bild: Boris Kustodijew (Kustodiev; 1878 – 1927): Palmsonntagsmarkt am Spasski-Tor/-Turm (Erlöserturm) des Moskauer Kreml (1917); Sankt Petersburg, Staatliches Russisches Museum (Wikimedia commons)