Was wir vom Verräter des Erlösers lernen können
Eine Meditation von Bruder Norabus
Die biblische Gestalt, in der sich das Drama der menschlichen Existenz am stärksten kristallisiert und verdichtet, ist die des Judas. In ihm wird die angeborene Schizophrenie der menschlichen Seele, die Sehnsucht nach der Erlösung, die immer wieder vom Wunsch nach dem persönlichen Vorteil um jeden Preis konterkariert wird, unmittelbar deutlich.
Dennoch gilt der von Judas begangene Verrat als so ungeheuerlich, dass der Verräter sich dadurch selbst aus der Gemeinschaft ausschließt und sich am Ende das Leben nimmt. Judas ist das Urbild des Parias. Durch seine Tat hat er sich so weit außerhalb der menschlichen Gemeinschaft gestellt, dass er sein Existenzrecht verwirkt hat.
Diese Sicht des Judas ist, psychologisch betrachtet, allerdings nichts als ein Abwehrmechanismus. Sie befreit uns von der Einsicht, dass die Verräternatur des Judas weit eher unserem Wesen entspricht als das von Jesus in der Bergpredigt skizzierte Ideal des verstehend-mitfühlenden Umgangs miteinander. Wir sind weit davon entfernt, jene vollkommene Friedfertigkeit an den Tag zu legen, wie Jesus sie in der Bergpredigt entworfen hat. Eher gehören wir zu jenen, die ihren Nächsten bedenkenlos verraten, wenn ihnen dies auch nur den geringsten Vorteil einbringt.
Sich dies einzugestehen, ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Annäherung an das Reich Gottes. Dieses Reich nämlich wird sich keineswegs eines Tages von selbst vor uns auftun. Wir müssen es vielmehr selbst errichten. Dafür aber müssen wir uns der finsteren Anteile unseres Wesens bewusst sein. Nur dann können wir an uns arbeiten und uns so auch in unserem alltäglichen Leben jenem Ideal von Friedfertigkeit, Mitgefühl und gelebter Solidarität annähern, für das wir uns jedes Jahr an Weihnachten ein paar Tränchen abdrücken.
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Judas: Die Nacht der menschlichen Seele
Bild: Nikolai Nikolajewitsch Ge (1831 – 1894): Judas (um 1880); Wikimedia commons
