Ein Chanson über ein geheimnisvolles Blumenmädchen

Émilie Simon: Alicia

Musikalischer Adventskalender 2024/22

Émilie Simons Chanson Alicia handelt von einem Blumenmädchen, das wie eine Verkörperung der Natur erscheint: Sie ist ebenso schön wie gefährlich, sie wirkt verführerisch, kann aber tödlich sein, wenn man ihr zu nahe kommt.

Alicia

Wenn Alicia
einen Strauß Rosen zusammenstellt,
hängt die Welt
an ihren Lippen.
Denn ihre Lippen
sind so rosarot,
so überraschend rosarot.

Wenn Alicia einschläft,
wachen fleischfressende Pflanzen
über ihren Schlaf.
Aber in Alicias Efeuarmen
wacht man nicht mehr auf.

Alicia schläft …
Ein Strauß Veilchen,
Klapperschlangen
tanzen in ihrem Kopf,
ein süßes Gift,
ein Jasminduft
auf den bleichen Wangen
eines Blumenmädchens.

Wenn Alicia
einen Strauß Rosen zusammenstellt,
ist die Welt in der Schwebe.
Aber in Alicias Efeuarmen
wacht man nie mehr auf.

Émilie Simon: Alicia aus: Végétal (2006)

Live-Aufnahme aus dem Jahr 2006:

Das Gift der Schönheit

Die „Alicia“ aus Émlie Simons Chanson tritt uns zunächst als eine Art Blumenverkäuferin gegenüber. Dabei strahlt sie allerdings eine so überwältigende Schönheit aus, dass sie alle Blicke auf sich zieht.

Bereits die zweite Strophe stellt allerdings klar, dass es sich bei „Alicia“ („der Vornehmen“/“Edelmütigen“) keineswegs um ein gewöhnliches Blumenmädchen handelt. Vielmehr ist sie mit ihren Efeuarmen offenbar selbst ein Teil der pflanzlichen Welt, mit der sie hantiert.

Zugleich wird deutlich, dass Alicia auch nicht von einer so harmlos-harmonischen Schönheit ist, wie es zunächst den Anschein hat. Die fleischfressenden Pflanzen, die über ihren Schlaf wachen, und das Klapperschlangengift in ihrem Körper lassen es vielmehr angeraten sein, sich von ihr fernzuhalten.

Für manche scheint dieser Rat jedoch zu spät zu kommen. Denn das Gift, das Alicia verströmt, ist so süß, dass viele sich offenbar in ihren Efeuarmen verfangen, ehe sie zur Besinnung kommen können.

Die Janusköpfigkeit der Natur

Das Lied spielt mit dem Topos der in der Frau personifizierten Natur. Dabei wird die Frau zum einen als der Unberechenbarkeit der Natur entsprechendes Wesen dargestellt, das andere Menschen – in erster Linie Männer – als „femme fatale“ verschlingt. Zum anderen erscheint Alicia aber auch als Verkörperung der Natur: als eine Pflanze, die ebenso schön wie gefährlich ist. Man kann sich an ihr erfreuen, aber wer sich ihr hingibt, läuft Gefahr, sich in ihren Armen zu verlie­ren.

Dies entspricht der Wirklichkeit der Beziehung des Menschen zur Natur. Sowohl in ihren Einzelerscheinungen als auch in Bezug auf den Umgang mit ihr ist die Natur ausgesprochen janusköpfig. Ihre Pflanzen können Segen, aber auch Verderben bringen, und wer sie nicht mit dem nötigen Einfühlungsvermögen behandelt, muss damit rechnen, dass sie launisch und rachsüchtig reagiert. 

Das Chanson nimmt auf die gleichermaßen Leben schen­kende und nehmende Natur allerdings auf äußerst spielerische Weise Bezug. Dadurch erinnert es an die floralen Ornamente des Jugendstils, in denen Frauenkörper sich tanzend und schlängelnd mit Blütenkelchen und Blumenstängeln verweben. Dem entspricht auch die traumartig-schwebende Musik, deren hypnotischer Charakter noch zusätzlich durch den zurückgenommenen Gesangsvortrag unterstrichen wird.

Über Émilie Simon

Émilie Simon, Tochter einer Pianistin und eines Toningenieurs, wurde 1978 in Montpel­lier geboren. Sie erhielt am dortigen Konservatorium eine Gesangsausbildung und stu­dierte anschließend an der Universität Montpellier Musikwissenschaft. In Paris setzte sie ihre Studien an der Sorbonne (in Alter Musik) sowie am Pariser Forschungsinstitut für Akustik und Musik (IRCAM) – in elektronischer Musik – fort.

Ihr Debütalbum (Émilie Simon, 2003) wurde bei Publikum und Musikkritikern ein großer Erfolg und brachte ihr einen Victoire de la musique ein, die höchste musikalische Auszeichnung in Frankreich. Einen weiteren Victoire erhielt sie für ihre Musik zu dem Film La Marche de l’Empereur (dt. „Die Reise der Pinguine“, 2005).

2007 zog sie nach New York um, wo sie 2009 ein Album in englischer Sprache (The Big Machine) herausbrachte. 2014 folgte das Album Mue (Mauser/Häutung), 2020 der Extended Player Mars on Earth.

Bilder: Itertal1: Blumenfrau (Wikimedia commons); Philippe Dulac: Émilie Simon bei einem Auftritt in Dijon (2006); Wikimedia commons

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