Blutige Zerstreuung

Zu dem Genesis-Song Blood on the Rooftops

Ein Blick auf die Progressive-Rock-Phase der Band

Der Genesis-Song Blood on the Rooftops ist eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Nachrichten- und Fernsehkultur. Diese wird als buntes Kaleidoskop beschrieben, die eher der Zerstreuung als der Information dient.

Blut auf den Dächern

Draußen der dunkelgraue Tag,
im Fernsehen ein englischer Film,
das Mittwochsspiel,
an Weihnachten
die Ansprache der Queen.
Ist das nicht wunderbar?

Schiffbrüchige ertrinken vor deinen Augen,
aber du sitzt noch immer im Trockenen.
Die Aussichten fürs Wetter sind gut,
auch wenn Wales wohl etwas Regen abbekommt.
Alles im Lot!

Komm, wir lassen die News aus,
ich mach‘ uns einen Tee.
Araber und Juden,
Streit bis zum Jüngsten Tag,
das macht mich ganz konfus,
da fallen mir die Augen zu!

Was ich aber am meisten hasse,
ist, abends lange aufzubleiben
für irgendeine Endlosdiskussion
über das Schicksal der Nation!

Batman hypnotisiert uns
und Tarzan, was für eine Überraschung,
du hast den Westen rechtzeitig erobert1,
um unser Gast zu sein.
Was wünschst du dir dafür?
Ein Gläschen Wein? Ein Bier?

Übrigens: Wie spät ist es?
Mein ist der Schmutz auf dem Tyne2
alles ist mein, alles ist mein!
„Fünf nach neun!“

Blut auf den Dächern3,
Venedig im Frühling,
die Straßen von San Francisco4,
ein Wort aus Peking.

Der ganze Ärger begann
mit dem jungen Errol Flynn5.
Zu meiner Zeit war’s besser:
Wenn uns die Langeweile packte,
fingen wir einen Weltkrieg an.
Wie glücklich wir
trotz unserer Armut waren!

Also komm, wir lassen die News aus,
ich geh‘ und mach‘ uns einen Tee.
Dieses Blut auf unseren Dächern,
das ist zu viel für mich.

Beim Abschied von der guten Mutter Gans6
stand es gerade 2 zu 37,
aber der Regen hat das Spiel gestoppt.
So hat die schöne Helena8
doch noch das Gesicht gewahrt.9

Genesis: Blood on the Rooftops aus: Wind & Wuthering (1976)

Official Audio:

Erläuterungen

  1. Westen rechtzeitig erobert: Offenbar eine Anspielung auf Westernfilme und den für diese maßgeblichen „Zug nach Westen“, hier verknüpft mit der Eroberung des westlichen Fernsehpublikums durch die Tarzan-Gestalt
  2. Tyne: Der „River Tyne“ ist ein in die Nordsee mündender Fluss im Nordosten Englands.
  3. Blut auf den Dächern: Gemeint ist das über die Fernsehantennen auf den Dächern in die Wohnzimmer einsickernde „Nachrichtenblut“.
  4. Die Straßen von San Francisco: „The Streets of San Francisco“ war der Titel einer US-amerikanischen Krimi-Serie mit Karl Malden und Michael Douglas aus den 1970er Jahren.
  5. Errol Flynn: Errol Flynn (1909 – 1959) war ein australisch-amerikanischer Filmschauspieler, der vor allem durch seine Rollen in Abenteuerfilmen Berühmtheit erlangte. Er fügt sich insofern in die Anspielungen auf andere Filme (Tarzan und Die schöne Helena) ein, die ebenfalls für den eskapistischen Ausbruch aus dem Alltag stehen.
  6. Mutter Gans: in Großbritannien populäre Verkörperung einer Märchenerzählerin, die entweder als alte Bäuerin oder als Gans mit Mütze dargestellt wird. Sie ist auch Namensgeberin für die „Mother-Goose-Rhymes“, bei denen es sich um Abzählreime und Spaßgedichte für Kinder handelt.
  7. Stand es gerade 2 zu 3: Der Originaltext („And they’re out for 23“) bezieht sich auf den Cricket-Sport. Cricketspiele können sehr zäh sein und sich – insbesondere beim so genannten „Test Cricket“ – über mehrere Tage hinziehen. In Verbindung mit den im Text erwähnten Regenunterbrechungen sind solche Spiele also eine einleuchtende Illustration für den thematisierten Fernseh-Überdruss.
  8. Die schöne Helena: Die von Homer in der Ilias verarbeitete antike Sage von der schönen Helena, deren Flucht mit dem trojanischen Prinzen Paris der finale Auslöser für den Trojanischen Krieg war, wurde von Robert Wise in einer italienisch-amerikanischen Koproduktion verfilmt. Der Film (Helen of Troy, deutsche Fassung auch als Der Untergang von Troja) kam Anfang 1956 in die Kinos.
  9. Das Gesicht gewahrt: Collagenartige Verknüpfung zwischen dem Film über die schöne Helena und dem kurz zuvor angesprochenen Sportereignis, bei dem die zurückliegende Mannschaft offenbar durch die Regenunterbrechung ihr „Gesicht wahren“ konnte.

Dissonanz zwischen Musik und Text

Der Song war laut Steve Hackett ursprünglich als Liebeslied gedacht. Allerdings seien die anderen Texte des Albums bereits stark von einem „romantischen Ton“ geprägt gewesen. Um einen Kontrapunkt zu setzen und auch andere Töne in das Album einzubringen, habe er beschlossen, „den Song so zynisch wie möglich zu machen“ .

Dies bezog sich allerdings nur auf den Text. Die Musik blieb elegisch-„romantisch“, wodurch den Song eine gewisse Dissonanz zwischen Musik und Text auszeichnet. Dies könnte aber vielleicht sogar gewollt sein – als Entsprechung zu der einlullend-„hypnotisierenden“ Wirkung der Fernseh-Wiegenlieder, die der Text kritisiert. Wie das gleichmäßige Geplätscher der Fernsehbilder von der düsteren Wirklichkeit ablenkt, führt die eingängige Musik zunächst dazu, dass die brisante Botschaft des Liedes überhört wird.

Problematische Wirkungen des Nachrichten- und Fernsehkonsums

In der Tat ist der Song nämlich alles anders als „romantisch“. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine kritische Auseinandersetzung mit der Art der medialen Nachrichtenübermittlung im Zeitalter des Fernsehens. Die Kritik wird dabei an drei problematischen Wirkungen des Nachrichten- und Fernsehkonsums festgemacht:

1. Voyeurismus

Das Setting der Nachrichtenübermittlung beim Fernsehen ist zwangsläufig mit einer Erziehung zur Passivität verbunden. Man ist dazu verdammt, anderen „beim Ertrinken zuzusehen, während man selbst im Trockenen sitzt“. Man schaut dem Leiden anderer zu, während man selbst es sich in seinem Fernsehsessel bequem macht und vielleicht gerade die nächste Chipstüte aufmacht, um sich über das Leid der Welt hinwegzutrösten.

Die Folge ist, dass das in den Nachrichten präsentierte Leid anderer nicht mehr zum Mitleiden und zu Hilfsbereitschaft motiviert, sondern mit sensationslüsternen Blicken konsumiert wird. Es ist nichts als ein weiterer Kitzel vor dem nächsten Krimi.

2. Abstumpfung

Viele Konflikte und Problemlagen, über die in den Nachrichten berichtet wird, weisen seit Jahrzehnten unveränderte Strukturen auf. Selbst die im Detail voneinander abweichenden kriegerischen Auseinandersetzungen ähneln sich in Motivation und Verlauf und begleiten die Menschheit letztlich seit der Steinzeit.

Viele Konflikte bleiben aber auch an sich über Jahrzehnte hinweg bestehen. Der in dem Song erwähnte Nahostkonflikt ist dafür ein gutes Beispiel. Vor 50 Jahren war er schon ebenso aktuell wie heute.

Die jahrzehntelange Konfrontation mit immer denselben Problemen, Problemlösungsansätzen und eskalierenden Konflikten führt am Ende nicht zu einer Potenzierung der Betroffenheit, sondern zu Abstumpfung. Ein Konflikt, der selbst durch immer neue Friedenskonferenzen und UN-Resolutionen nicht aus der Welt geschafft werden kann, erscheint als unlösbar. Trotzdem immer wieder von ihm zu hören, erzeugt Gefühle der Ohnmacht und des Überdrusses – mit der logischen Konsequenz, die Nachrichten „auslassen“ bzw. „überspringen“ zu wollen.

3. Aufmerksamkeitsdiffusion

Der rasche Wechsel der Schauplätze und Informationen in den Nachrichten wirkt auf das Gehirn wie ein Sperrfeuer an Reizen. Die Konzentration wird dadurch gerade dort geschwächt, wo es im Interesse der Orientierung in der Welt wichtig wäre, die Aufmerksamkeit zu schärfen.

Wie insbesondere der Schluss des Songs zeigt, gilt dies auch für das Umfeld, in dem die Nachrichten dargeboten werden. Eingeklemmt zwischen Unterhaltungsshows, Abenteuerfilmen und Sportsendungen, verlieren die einzelnen Informationen an Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit. Sie erscheinen nur noch als Fragmente im bunten Kaleidoskop der Zerstreuung.

Kulturkritik ohne Nostalgie

Die kulturkritische Botschaft des Songs ist allerdings keineswegs mit einem nostalgischen Seufzer im Sinne von „Früher war alles besser“ verbunden. Dies zeigt der zynische Hinweis des Sprechers, früher habe man sich die Langeweile mit „Weltkriegen“ vertrieben.

Es geht also nicht um eine Rückkehr zur voraufklärerischen Zeit der Uninformiertheit. Der Song plädiert stattdessen für eine Form der Nachrichtenvermittlung, die dem Ideal eines kritisch-aufgeklärten Publikums entspricht.

Zitat von Steve Hackett entnommen aus: Clarke, Steve: A Genesis Guide to Genesis; Inter­view mit der Band am 1. Januar 1977 im New Musical Ex­press; abrufbar in thegenesisarchive.co.uk.

Bild: John William Waterhouse (1849 – 1917): Der Schlaf und sein Halbbruder Tod (1874); Wikimedia commons

Eine Antwort auf „Blutige Zerstreuung

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..