Zu dem Genesis-Song A Trick of the Tail
Musikalischer Adventskalender 2024/15
In dem Genesis-Song A Trick of the Tail verirrt sich ein fremdartiges Wesen in die Welt der Menschen. Das Lied zeigt auf exemplarische Weise verschiedene Herangehensweisen an das Fremde.
Ein Streich mit dem Schwanz
Gelangweilt von dem Leben in der goldenen Stadt,
verließ er heimlich seine Heimat.
Die Türme seiner Kindheit versanken im Dunst,
er war allein mit seinem Traum
von einem anderen Leben.
Lange lief er über breite Straßen
und durch enge Täler
auf dem Weg nach Irgendwo,
zu neuen Formen des Zusammenseins.
Aber in der Welt, in die er kam,
sahen alle seltsam fremd für ihn aus:
„Sie haben keine Hörner und keinen Schwanz,
sie wissen nichts von unserer Existenz.
Ist meine ferne Heimat, die goldene Stadt,
etwa nur ein Traum?“
So rief er unter Tränen, als sie ihn
in einen Käfig steckten.
„Wildes Tier, das sprechen kann“,
stand auf einem Schild.
Sie schubsten und sie stießen ihn
und hörten ihm stirnrunzelnd zu.
Doch bald schon wurden sie
ihrer Beute überdrüssig.
„Ein wildes Tier, das sprechen kann?“
„Ach was – das ist doch nur ein Spinner
oder ein Werbegag!“
„Sie haben keine Hörner …“
So rief er und brach aus seinem Käfig aus.
Eines der fremden Wesen im Nacken packend,
zeigte er stürmisch in die Ferne:
„Dort, jenseits der Grenzen
eurer kümmerlichen Phantasie,
liegen, hell und golden,
die edlen Türme meiner Stadt!
Lasst mich euch dorthin führen!
Lasst mich euch zeigen, wie lebendig
meine Geschichte ist!
Lasst mich euch zeigen,
dass es noch viele andere gibt wie mich!
Ach, warum nur bin ich fortgegangen?“
„Sie haben keine Hörner …“
Also haben wir uns auf den Weg gemacht
mit der gehörnten Bestie
und ihrer verrückten Beschreibung
ihrer fernen Heimat.
Wir liefen und wir liefen, bis zu einem Gipfel,
wo die Bestie Ausschau hielt und freudig aufschrie.
Wir folgten ihrem Blick und dachten,
wir sähen in der Ferne die Spitze eines Turmes.
Doch das war wohl nichts als eine Sinnestäuschung.
Das wilde Tier aber war verschwunden,
und wir hörten nur das Echo seiner Stimme:
„Sie haben keine Hörner …“
„Hallo, mein Freund, willkommen zu Hause!“
Genesis: A Trick of the Tail aus dem gleichnamigen, 1976 herausgebrachten Album
Official Video:
Verschiedene Herangehensweisen an das Fremde
Der aus der Feder von Tony Banks stammende Song lässt sich als eine Auseinandersetzung mit der Art, wie Menschen dem Fremden begegnen, lesen. Fünf verschiedene Herangehensweisen an das Fremde lassen sich dabei voneinander unterscheiden:
1. Das Fremde als Sehnsuchtsziel
Die Hauptperson des Liedes scheint in einer wohlhabenden Welt zu leben. Die Türme ihrer Stadt sind vergoldet, und wie der Schluss zeigt, scheint sie auch gut in ihre Welt integriert zu sein. Dennoch verlässt sie eines Tages ihre Heimat.
Der Grund dafür ist offenbar schlicht die Anziehungskraft der Fremde: der Wunsch, eine andere Form von Gemeinschaft kennenzulernen, eine andere Art, miteinander umzugehen, eine andere Art, die Welt zu sehen. So erscheint das Fremde hier als befruchtendes Element, das es ermöglicht, durch einen vollständigen Perspektivwechsel eine persönliche Bereicherung zu erfahren.
2. Das Eigene als das Fremde
Sobald das entflohene Wesen – das offenbar äußerlich einem Tier ähnelt – in der Fremde ankommt, sieht es die eigene Welt mit anderen Augen. Was vorher als selbstverständlich hingenommen wurde, wird plötzlich in seinem Wert erkennbar: das Eingebundensein in eine Gemeinschaft, die Vertrautheit mit den Alltagsroutinen, die mit anderen geteilte Sicht der Wirklichkeit. Erst die Entwurzelung führt den Wert der eigenen Verwurzelung in eine bestimmte Welt vor Augen.
3. Das Fremde als Bedrohung
Die Reaktion der Menschen in der fremden Welt, auf die der Reisende trifft, stehen für die entgegengesetzte Reaktion auf das Fremde: Es wird als Bedrohung aufgefasst, der undurchschaubare Gast aus einer anderen Welt wird weggesperrt.
4. Das Fremde als exotistischer Reiz
Sobald die Menschen in dem Zielland der Reise das Fremde unter Kontrolle zu haben glauben, erscheint es ihnen nicht mehr als Bedrohung, sondern als etwas, woran sie ihre Sensationsgier befriedigen können. Das Interesse richtet sich dabei allerdings nicht auf das fremde Wesen selbst und seinen kulturellen Hintergrund, sondern auf das Fremde als solches.
Ein derartiger Umgang mit dem Fremden ist aus der Kolonialliteratur bekannt. Dabei werden auf das Gegensatzpaar aus „edlem“ und „verrohtem“ Wilden Sehnsüchte oder Ängste projiziert, die auf der eigenen Gebundenheit an eine von der Natur entfremdete Zivilisation basieren. Gegenüber früheren Zeiten, in denen in fernen Ländern eingefangene Menschen in Käfigen auf Jahrmärkten ausgestellt wurden, erscheint allerdings selbst das als Fortschritt.
5. Das Fremde als eigenständige Wirklichkeit
Diese Herangehensweise an das Fremde ist, wie der Schluss des Liedes zeigt, am schwersten zu realisieren: Als die Menschen aus der anderen Welt, die dem ungebetenen Gast in dessen Heimat gefolgt sind, die Konturen des fernen Landes sehen, sind sie unfähig, dessen Realität zu erfassen. Eingeschlossen in ihre eigenen Wahrnehmungsmuster, sehen sie darin nichts als eine Sinnestäuschung. So bleibt ihnen die Wirklichkeit des Fremden verschlossen.
Beeinflussung durch William Goldings Roman Die Erben
Ein wichtiger Einflussfaktor für den Song ist William Goldings Roman The Inheritors (Die Erben; 1955). Dieser handelt von einer Neandertalergruppe, deren Existenz von einer Homo-Sapiens-Gruppe bedroht wird.
Auch in Goldings Roman wird die ambivalente Haltung gegenüber dem Fremden herausgestellt. Die Sicht beider Gruppen aufeinander ist gleichzeitig von Faszination und Furcht geprägt. Dabei erweist sich die Homo-Sapiens-Gruppe am Ende allerdings, entsprechend der historischen Realität, als überlegen und nimmt lediglich ein Mädchen aus dieser Gruppe als eine Art Andenken an die Neandertalerlinie mit.
In diesem Mädchen lässt sich ein Alter Ego des wilden Tieres, das sprechen kann, aus dem Genesis-Song sehen. Historisch entspricht dem die Inkorporation eines Teils der Neandertaler-Gene in das menschliche Genom.
Auch die in dem Songtext gewählte Erzählhaltung weist Parallelen zu Goldings Roman auf. Wie in diesem wird überwiegend aus der Perspektive des Fremden erzählt. Erst in der letzten Strophe wird die Blickrichtung umgedreht. Dies entspricht dem Roman Goldings, der weitgehend aus der Neandertalerperspektive geschrieben ist und erst im letzten Kapitel zur Sicht der Homo-Sapiens-Gruppe wechselt.
Bild: KI generiert