Zu dem Genesis-Song Anyway
Musikalischer Adventskalender 2024/14
In dem Genesis-Song Anyway geht es um die Auseinandersetzung mit dem Tod. Das ernste Thema wird dabei allerdings aus einer ironischen Distanz angegangen.
Wie auch immer
Bald wirst du, mein geliebtes Herz1,
nicht mehr die Trommel schlagen für mich.
Meine Zeit ist um,
der Augenblick ist gekommen,
den Ursuppenmeister zu treffen.
So schnell ich auch gerannt bin –
der Tod ist schneller gerannt als ich.
Jetzt fühle ich mich innerlich erkaltet,
das Atmen fällt mir immer schwerer.
„Das war’s dann, Kumpel,
hier endet die Reise von Asche zu Asche,
du hattest deinen Spaß!2
Auch wenn es nicht jedermanns Sache ist:
Die Felsen werden mit der Zeit
dein Blut zu Öl zerpressen
und dein Fleisch zu Kohle,
Nahrung wird dein Körper sein
für die ewig hungrige Erde.“
Die Todesgöttin, heißt es,
komme als Reiterin auf einem fahlen Pferd.3
Mir aber ist’s, als würde mich
ein Schnellzug überrollen.
Seltsam – ich fühle gar keinen Schmerz!
Wahrscheinlich träume ich mich selbst
in den Wahnsinn der Verdammten hinein.
Stopft nun die Erde ein Loch im Himmel
oder der Himmel ein Loch in der Erde?
Wie herrlich tiefsinnig ich bin,
während alles, was ich bin,
in einem dunklen Abgrund versinkt!
Jemand zieht an einem Seil,
lautlos rutsche ich herab
über den Regenbogenhorizont.
Ich hätte mich auch
zerreißen lassen können
von einer Rakete im All,
meine Knochen kreisen lassen können
um die Erde, mich schwebend
der gesetzten Frist entziehen können.
Stattdessen strecke ich mich still
auf Gottes steinigem Acker aus.4
Horch, es klingelt. Eine Stimme sagt:
„Guten Morgen, Rael!
Tut mir leid, dass du warten musstest.
Es dauert nicht mehr lange.
Es kommt nur äußerst selten vor,
dass uns’re Herrin sich verspätet.“
Genesis: Anyway aus: The Lamb Lies Down on Broadway (1974)
Erläuterungen
- Mein geliebtes Herz: „Sweetheart“ ist hier in der doppelten Bedeutung aus „Schatz/Liebling“ und „sweet heart“ (süßes/geliebtes Herz) zu verstehen.
- Du hattest deinen Spaß: Das englische „flash“ reimt sich zum einen auf „ashes“ (Asche) und greift zum anderen – in der Bedeutung „Blitz“ – den Eindruck des Protagonisten (Rael), sein Leben „blitzartig“ hinter sich gebracht zu haben, auf. Darüber hinaus enthält das Wort – im Sinne von „plötzlicher, rauschhafter Einsicht, Geistesblitz“ – auch eine Anspielung auf den an einen Drogenrausch erinnernden Trip, auf dem Rael sich mit seiner geistigen Reise befindet.
- Reiterin auf einem fahlen Pferd: Anspielung auf den vierten und letzten der Apokalyptischen Reiter, deren Ankunft gemäß der biblischen Offenbarung des Johannes das Jüngste Gericht ankündigt. Die weibliche Form in dem Songtext gibt dem Tod ein erotisches Element und verbindet ihn so mit dem „Sweetheart“-Wortspiel vom Anfang des Songs (s.o.).
- Auf Gottes steinigem Acker: Wortspiel mit „Gottesacker“ als Synonym für „Friedhof“
Official Audio:
Zusammenstellung von Live-Auftritten mit The Lamb Lies Down on Broadway
Die bittere Wahrheit des Daseins
Der Song Anyway (Wie auch immer) steht auf dem Konzeptalbum The Lamb Lies Down on Broadway in unmittelbarer Nähe zu The Chamber of 32 Doors (siehe Beitrag zu dem Lied). Geht es in letzterem Song um die Richtung, die man in seinem Leben einschlagen möchte, so thematisiert Anyway das Ziel, auf das jede Lebensreise unweigerlich zuläuft: den Tod.
Das Lied steht im Zusammenhang mit anderen existenziellen Erfahrungen, die der Held in der auf dem Album erzählten Geschichte durchläuft. Dabei geht es jeweils darum, die zentralen Aspekte des Daseins bewusst zu durchleben.
Dementsprechend thematisiert der Song zunächst die Verzweiflung eines Menschen, der bis auf den Grund seiner Existenz schaut und dort die bittere Wahrheit entdeckt: Nach einem Eintagsfliegen-Trip durch die Welt fällt sein Körper zurück an den großen Materiebrei und ist nur noch Nahrung für anderes Sein.
Ironische Distanz zur eigenen Verzweiflung
Gleichzeitig enthält der Song jedoch auch Passagen, die eine ironische Distanz zu der eigenen Verzweiflung aufbauen – und sie so überhaupt erst erträglich machen.
Dies gilt bereits für die Grundkonstellation des Songs, die durch das Wartezimmer-Setting Assoziationen an eine Arztpraxis weckt. Dementsprechend erscheint die Person, die den Protagonisten am Ende anspricht, auch als eine Art Sprechstundenhilfe. Ihre entschuldigenden Worte beziehen sich jedoch nicht auf verspätete medizinische Hilfe, sondern auf die verspätete Begegnung mit etwas, auf dessen Ankunft jeder gerne verzichten würde.
Ebenso selbstironisch ist das Bedauern darüber, nicht mit einem großen Knall aus der Welt zu scheiden, sondern sich klammheimlich aus dem einen in das andere unterirdische Reich davonschleichen zu müssen. Das narzisstische Durchdrungensein von der eigenen Bedeutung wird hier sogar auf den Abschied von der Welt ausgedehnt.
Vor dem Hintergrund der durchlebten Todeserfahrung enthält das Lied schließlich auch einen Seitenhieb auf abstrakte Auseinandersetzungen mit dem Tod. Bei der konkreten Begegnung mit dem Tod erweisen sie sich, so die Kritik in dem Song, als ebenso realitätsfremd wie die Frage, ob „die Erde ein Loch im Himmel stopft oder der Himmel ein Loch in der Erde“.
Bild: Paul Gauguin (1848 – 1903): Madame La Mort (Frau Tod); Paris, Musée d’Orsay (Wikimedia commons)