Die schwierige Suche nach der Tür zu sich selbst

Zu dem Genesis-Song The Chamber of 32 Doors

Musikalischer Adventskalender 2024/13

Das Konzeptalbum The Lamb Lies Down on Broadway von Genesis erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der zu einer Art Traumreise zu sich selbst aufbricht. Dem Song The Chamber of 32 Doors kommt dabei für seinen Selbstfindungsprozess eine zentrale Bedeutung zu.

Die Kammer mit den 32 Türen

Hunderte von Menschen
drängeln sich oben auf der Treppe.
Sie rennen von Tür zu Tür,
beifallheischend um sich blickend
bei jeder neuen Wahl.

Vor mir steht der reiche Mann,
hinter mir der arme Mann.
Sie träumen von Herrschaft über das Spiel,
doch der Gaukler1 lässt die Karten
immer wieder neu vom Himmel regnen.

Wenn ich nur jemanden hätte,
an den ich glauben könnte,
jemanden, dem ich vertrauen könnte!

Eher als einem Menschen aus der Stadt
würde ich mein Vertrauen
einem Menschen vom Lande schenken.
Vom Überlebenskampf gestärkt,
bricht sich durch den Schutzwall seiner Augen
die Brücke eines Lächelns.

Ich würde mein Vertrauen eher
einem Menschen schenken, der
die Welt mit seinen Händen erfährt.
Wortlos dringen deine Blicke
zu seinem Herzen vor.
Wer braucht schon ein Visier
bei der Arbeit auf den Feldern?

Hier unten aber
bin ich ganz allein mit meiner Angst
und diesen unheilvollen Geräuschen.
Jede Tür, durch die ich gehe,
bringt mich nur wieder zurück
an diesen unwirtlichen Ort.

Nur ich allein kann einen Weg
aus diesem Chaos finden.
Nur ich allein kann ihn erkennen:
meinen eigenen Weg.

Der Priester und der Magier2
überbieten sich im Singen all der Lieder,
die sie je vernommen haben,
während Akademiker versonnen
suchen nach dem gedruckten Wort.
Aus dem allen aber schlägt mir
mein eigener Name entgegen.

Mein Vater zu meiner Linken,
meine Mutter zu meiner Rechten.
Sie weisen mir den Weg,
wie alle anderen,
doch keine Richtung
erscheint mir als die richtige.

Wenn ich nur jemanden hätte,
an den ich glauben könnte,
jemanden, dem ich vertrauen könnte!

Ich würde mein Vertrauen eher
einem Menschen schenken, der
mit seinem Wissen nicht hausieren geht.
Wer den Weg zu sich gefunden hat,
muss sein Wissen nicht verkaufen.
Er wird ehrlich zu mir sein,
unabhängig von dem Weg,
für den ich mich entscheide.

Aber in dieser chaotischen Innenwelt,
der Kammer mit den vielen,
unendlich vielen Türen,
gibt es keinen Zufluchtsort für mich.

All meine Träume gäbe ich her
für einen kleinen Fingerzeig,
für den Weg zu einer Tür,
die mich nicht im Kreis herumführt.
Nur fort, fort von hier!

Genesis: The Chamber of 32 Doors aus: The Lamb Lies Down on Broadway (1974)

Erläuterungen

  1. Gaukler: bezieht sich offenbar auf das Tarot-Spiel, in dem der „juggler“ (Gaukler/Jongleur) oder „magician“ (Magier/Zauberer) die zweite Karte nach dem Narren ist. Er hat normalerweise eine positive Bedeutung und steht für das souveräne „Jonglieren“ mit den eigenen Möglichkeiten. Im gegebenen Zusammenhang verweist er aber eher auf die Unvorhersehbarkeit des Schicksals.

Da Tarotkarten für einen Blick in die magische Kugel des Schicksals genutzt werden, passen sie gut zu der in dem Lied beschworenen Situation der verzweifelten Suche nach dem richtigen Weg im Leben. Auch „der“ reiche und „der“ arme Mann beziehen sich in dem Zusammenhang offenbar auf die entsprechenden Tarotkarten.

  • Priester/Magier: Erneute Anspielung auf Tarotkarten.

Official Audio:

Zusammenstellung von Live-Auftritten mit The Lamb Lies Down on Broadway

Der Song im Rahmen des Konzeptalbums

Der Song The Chamber of 32 Doors (Die Kammer mit den 32 Türen) findet sich auf dem 1974 herausgebrachten Konzeptalbum The Lamb Lies Down on Broadway von Genesis. Darauf sind alle Songs durch eine gemeinsame Geschichte verbunden, die auf dem Album-Cover abgedruckt ist.

Im Mittelpunkt der Story steht der junge, in New York lebende Puertoricaner Rael. Dieser gerät eines Tages beim Verlassen der U-Bahn in eine mysteriöse Wolke, die sich immer weiter ausdehnt und ihn schließlich verschluckt. Ihr Auslöser ist offenbar ein ebenso mysteriöses Lamm, das sich aus dem morgendlichen Dunst materialisiert und sich auf dem Broadway niederlegt – daher der Name des Albums.

Durch die Wolke gelangt Rael in eine Art surreale Parallelwelt, in der er sich auf eine Traumreise zu sich selbst begibt. In dem wohl bekanntesten Lied des Albums, The Carpet Crawlers, findet er sich in einem langen Gang wieder, auf dem Menschen in kriechender Haltung einer Wendeltreppe entgegenrobben. An deren oberem Ende führt eine Tür in einen Raum mit 32 Türen, von denen nur eine einzige in die Freiheit führt.

Was ist der richtige Weg im Leben? Wem kann man vertrauen?

Im Rahmen der auf dem Album erzählten Geschichte eines traumwandlerischen Selbstfindungsprozesses kommt dem Song The Chamber of 32 Doors eine zentrale Bedeutung zu. Hier werden die entscheidenden Fragen gestellt: Was ist der richtige Weg im Leben? Wie soll man leben?

Die unzähligen Türen versinnbildlichen dabei natürlich zum einen die verschiedenen Richtungen, in denen sich das weitere Leben des Protagonisten entwickeln kann. Daneben stehen sie jedoch auch für die unterschiedlichen Ratschläge, die andere ihm für sein weiteres Leben erteilen.

Vor diesem Hintergrund werden in dem Song auch Überlegungen dazu angestellt, welchen Personen man bei solchen existenziellen Fragen am ehesten vertrauen kann. Den Ratgeber-Gurus wird dabei grundsätzlich mit Misstrauen begegnet. Ihnen wird unterstellt, dass sie mit ihrer marktschreierischen, beifallheischenden Art nur kaschieren, dass sie in Wahrheit gar nichts vom Leben verstehen und selbst richtungslos durch die Welt taumeln.

Hilfestellung wird am ehesten von einfachen Menschen und unspektakulären Begegnungen erwartet, die noch nicht einmal notwendigerweise mit tiefschürfenden Gesprächen verbunden sein müssen. Dass der Protagonist solche Begegnungen eher in einer ländlichen Umgebung erwartet, ist wohl auch aus seiner persönlichen Situation heraus zu erklären. Schließlich hat ihn ja gerade das entfremdete Leben in der Stadt aus der Bahn geworfen und zu seiner inneren Reise aufbrechen lassen.

Am Ende steht freilich die Erkenntnis, dass die Begegnung mit anderen immer nur eine unterstützende Funktion bei dem Weg zu sich selbst haben kann. Seinen eigenen Weg kann man nur selbst finden.

Bild: Arek Socha: Entscheidungstüren (Pixabay)

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