Die Welt aus der Perspektive eines Außerirdischen

Zu dem Genesis-Song Watcher of the Skies (Wächter des Himmels)

Musikalischer Adventskalender 2024/11

In dem Genesis-Song Watcher of the Skies (Wächter des Himmels) wird die Welt aus der Perspektive eines in den Tiefen des Universums weilenden „Himmelswächters“ betrachtet. Für diese Figur gibt es mehrere literarische Vorlagen.

Wächter des Himmels

Wächter des Himmels,
du, dem nichts verborgen bleibt,
du, Einsamster, der alle Welten sieht,
ohne in einer zu Hause zu sein;

Wächter des Himmels,
du, den nichts mehr überraschen kann,
du, der du, deine Brauen hebend,
einen neuen Planeten entdeckst:
einen Planeten, von Wesen geformt,
denen ihr Zepter entgleitet.

Was ist geschehen? Hat wieder ein Leben
ein anderes zerstört?
Werden die gestürzten Wesen
anderswo ihre Spiele weiterspielen?
Doch kennen sie mehr als Kinderspiele?

Ist es nur ein Intermezzo,
ein Salamander, der sich schützend trennt
von seinem Schwanz? Oder ist das Band
zerrissen zwischen Mensch und Erde?

Wächter des Himmels,
sei gnädig mit diesen Geschöpfen!
Du kannst ihr Wesen nicht lesen
aus ihren Trümmern,
wie du Gott nicht findest
in seinen toten Kreaturen.

Denn jetzt hat der Salamander
sich von seinem Schwanz getrennt.
Jetzt ist das uralte Band zerrissen
zwischen Mensch und Erde.

„Nun kehrt das abgetrennte zurück
in den Arm des Einen Lebens.
Nein, ihr gealterten Kinder,
eure Reise ist noch nicht vorbei!

Hört meinen Rat für eure Reise:
Bedenkt die Gnadenlosigkeit des Ozeans
des Lebens! Kein Schiff ist stark genug
für seine Launen! Nur die Achtsamen
lädt er ein zum Tanz auf seinen Wellen.“

Genesis: Watcher of the Skies aus: Foxtrot (1972)

Live in der US-amerikanischen Late-Night-Show The Midnight Special (1974):

Official Audio

Ein Song mit vielen intertextuellen Bezügen

Der Text zu dem Song mit dem berühmten, über zweiminütigen Mellotron-Intro ist von Tony Banks und Mike Rutherford ge­schrieben worden. Er enthält eine Reihe literarischer Anspielun­gen. Um den Text zu verstehen, ist es daher notwendig, zunächst einen Blick auf die intertextuellen Bezüge zu werfen.

„Watcher of the skies“ bei John Keats

Die Wendung „watcher of the skies“ taucht in der englischen Poesie in zwei Gedichten an prominenter Stelle auf: in einem Gedicht von John Keats und in einem Gedichtzyklus von James Joyce.

John Keats (1795 – 1821) benutzt die Wendung in dem Gedicht On first looking into Chapman’s Homer (Beim ersten Blick in Chapmans Homer; 1816). Darin feiert er George Chapman für die neue Sicht auf Homer, die er durch seine Übersetzung von dessen Werk ermöglicht habe. Homers Verse durch den Filter von Chapmans Übersetzung zu lesen, sei, so Keats, wie die Entdeckung eines neuen Planeten. Wörtlich schreibt er:

„Then felt I like some watcher of the skies
when a new planet swims into his ken“


„Wie ein Beobachter des Himmels fühlt‘ ich mich da,
wenn ein neuer Planet in sein Blickfeld schwimmt.“ [2]

„Watcher of the skies“ bei James Joyce

Bei James Joyce findet sich die Wendung „watcher of the skies“ im dritten Gedicht seines 1907 erschienenen Zyklus Chamber Music (Kammermusik). Das Gedicht evoziert eine Stimmung nächtlicher Ruhe, in die sich ein einsamer nächtlicher Himmelsbetrachter versenkt:

„At that hour when all things have repose,
o lonely watcher of the skies,
do you hear the night wind (…)“ [3]

Statt mit „Himmelsbetrachter“ ließe sich „watcher of the skies“ hier allerdings auch mit „Wächter des Himmels“ übersetzen. Die Wendung verweist so gleichzeitig auf die Haltung der Kontemplation wie auf ihren Gegenstand, die im nächtlichen Zurücksinken der Dinge in sich selbst offenbar werdende Einheit des Seins – was im Falle von Joyce nicht notwendigerweise religiös konnotiert sein muss.

Eine deutsche Nachdichtung könnte etwa so aussehen:

„Hörst du, einsamer Himmelsbetrachter,
jetzt, wo alle Dinge sich zur Ruhe legen,
das Flüstern des Nachtwinds
und das Liebesseufzen der Harfen
vor dem bleichen Tor des Sonnenuntergangs?

Jetzt, wo alle Dinge sich zur Ruhe legen,
hörst du allein dem Wechselgesang zu
aus Windgeflüster und Harfengezirpe,
du, einsamer Wächter des Himmels,
auf den silbernen Flügeln der Nacht.

So spielt weiter, unsichtbare Harfen,
leuchtet der Liebe den Weg
in den zitternden Gezeiten
des Mondlichts, durchdringt den Himmel
und die Erde mit eurem Liebeszirpen!“

Die Comic-Figuren der „Watchers“

Bei den „Watchers“ aus der Marvel-Comics-Welt handelt es sich um außerirdische Wesen, die erstmals im Jahr 1963 in den Geschichten rund um die Superhelden der „Fantastic Four“ die Comic-Bühne betreten haben. Als allmächtige Wesen wachen sie über die Vorgänge in den zahlreichen Multiversen der Marvel-Welt.

Die „Watchers“ beschränken sich allerdings in der Regel auf das Beobachten und Protokollieren des Geschehens. Nach einem Missgeschick aus der Anfangszeit ihrer lange zurückreichenden extraterrestrischen Existenz haben sie sich geschworen, sich nicht mehr in den Gang der Entwicklungen auf anderen Planeten einzumischen. Konkret ging es dabei um die Überlassung der Nukleartechnologie an eine andere Spezies, die diese nicht für friedliche Zwecke genutzt hat.

Entgegen der Verpflichtung auf nicht-interventionistisches Agieren spielt einer der Watchers eine zentrale Rolle bei der Abwendung von Unheil von Erde und Menschheit. Unter anderem hilft er den Menschen beim Kampf gegen eine „Overmind“ genannte extraterrestrische Kraft, die andere durch die Kontrolle und Verpflanzung von deren Gedanken beherrschen kann. Eine außerirdische Kraft mit demselben Namen taucht auch in Arthur C. Clarkes unten erwähntem Roman auf – wobei sie darin allerdings nicht so eindeutig negativ konnotiert ist.

Arthur C. Clarkes Roman „Childhood’s End“

1953 veröffentlichte Arthur C. Clarke seinen Roman Childhood’s End (Das Ende der Kindheit; deutsche Fassung 1960 unter dem Titel „Die letzte Generation“ erschienen). Darin beschreibt er die Ankunft von „Overlords“ genannten außerirdischen Wesen auf der Erde.

Die Anwesenheit der Extraterrestrischen erweist sich zunächst als Wohltat für die Menschen. Sowohl der materielle Wohlstand als auch das seelische Wohlbefinden verbessern sich, da mit den Fremden neue Heilmethoden und friedlichere Umgangsformen auf der Erde Einzug halten.

Allerdings verfolgen die fremden Wesen mit ihren Wohltaten einen Plan, der in letzter Konsequenz das Ende der Menschheit in ihrer bisherigen Form bedeutet. Ihr eigentliches Ziel besteht darin, die Menschen für ein höheres, aus reiner Energie bestehendes Wesen namens „Overmind“ zu öffnen und schließlich in ihm aufgehen zu lassen.

Die Erreichung dieses Ziels deutet sich an, als die ersten Kinder telepathische und telekinetische Fähigkeiten zeigen, also Gedanken lesen und Dinge mit der Kraft ihres Geistes in Bewegung setzen können. Diese Kinder werden durch die „Overlords“ von den anderen Menschen isoliert und schrittweise an ihre neue, höhere Existenzform herangeführt. Der übrige Teil der Menschheit vegetiert, unfruchtbar geworden, seinem Ende entgegen.

Spuren der literarischen Einflüsse in dem Song

Die Wendung „Watcher of the skies“

Wenn auch das Gedicht von Keats bekannter sein mag, so weist das Joyce-Gedicht doch eine größere Nähe zu dem Song auf.

Im Falle von Keats‘ „watcher of the skies“ ergibt sich lediglich eine Übereinstimmung dem Wortlaut nach. Bei Joyce besteht neben der verbalen dagegen auch eine inhaltliche Affinität zu dem Song.

Dies liegt zum einen an der kontemplativen Haltung, die der „watcher of the skies“ bei Joyce einnimmt. Zum anderen passt auch die Doppeldeutigkeit aus beobachtendem und behütendem Ich gut zu der paradoxen teilnehmenden Distanziertheit, wie sie für den „watcher of the skies“ aus dem Song charakteristisch ist.

Die Comic-Watchers und der Watcher in dem Song

Die „Watchers“ aus der Comic-Welt finden in dem Song eine Entsprechung in der Perspektive, aus welcher das Geschehen wahrgenommen wird. Dabei handelt es sich offenbar ebenfalls um eine Blickrichtung, die durch die extreme Distanz eines Lichtjahre entfernten Standorts irgendwo in den Weiten des Alls geprägt ist.

Wie die Watchers aus den Comics ist der Watcher aus dem Song zudem ein reiner Beobachter der Ereignisse in fernen Galaxien.  Eingreifendes Handeln ist ihm fremd.

Dies erklärt auch die an ihn gerichtete – durch den Chorgesang im Stakkato-Stil besonders hervorgehobene – Ermahnung, die fremde Welt nicht nach den Trümmern zu beurteilen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in sein Blickfeld geraten. Die Momentaufnahme verstellt den Blick auf die hinter den Trümmern liegende Geschichte der betreffenden Zivilisation, die weit komplexer ist und auch anders hätte enden können, als es das Bild des Augenblicks zeigt.

Bezüge zu dem Roman von Arthur C. Clarke

Der Roman von Arthur C. Clarke ist als Referenztext überall dort eine Verständnishilfe für den Songtext, wo der Gedanke des Untergangs in dem Song mit Spekulationen über einen Aufstieg in eine höhere Existenzform verbunden wird.

Dies ist etwa der Fall, wenn von der Eidechse die Rede ist, die ihren Schwanz nur abwirft, um überleben zu können. Noch deutlicher ist die Anspielung auf den Übergang in ein neues Stadium des Seins dort, wo von dem „Weiterspielen“ der untergegangenen Spezies an einem anderen Ort die Rede ist.

Der Frage, ob dies möglich ist, wird dabei in dem Song allerdings mit starker Skepsis begegnet. Der Befürchtung, dass die Untergehenden nur zu „Kinderspielen“ fähig seien, also noch nicht über das Kindheitsstadium ihrer Entwicklung hinausgekommen seien, entspricht auch die abschließende Mahnung des Watchers, auch in der neuen Seinsweise umsichtig und vorausschauend zu handeln.

Fazit

Inspiriert durch unterschiedliche literarische Quellen, entwirft der Songtext eine Vision, die sowohl dystopische als auch utopische Elemente enthält. Der dystopischen Andeutung des Untergangs der menschlichen Zivilisation steht die Utopie eines Neuanfangs unter veränderten Vorzeichen gegenüber.

Dies passt recht gut zu unserer heutigen Situation, in der Klimawandel und immer destruktivere Kriege ein radikales Umdenken erfordern – das allerdings durch Profitgier und die Allmachtsphantasien rücksichtsloser Potentaten ebenso radikal in Frage gestellt wird.

Die in dem Song zum Ausdruck gebrachte Skepsis, ob die Menschheit ihren Kinderschuhen schon so weit entwachsen ist, dass sie zu einem radikalen Wandel fähig ist, ist daher heute nicht weniger aktuell als damals.

Nachweise

[1]    Zit. nach Easlea, Daryl: Without Frontiers: The Life & Music of Peter Gabriel, S. 104. London 2014: Omnibus Press.

[2]    John Keats:On first looking into Chapman’s Homer / Beim ersten Blick in Chapmans (Übersetzung von) Homer; Titelgedicht des gleichnamigen, 1816 erschienenen Gedichtbandes.

[3]    James Joyce: Chamber Music (Kammermusik, 1907), 3. Gedicht. Poets‘ Corner, theotherpages.org.

Bild: Peter Gabriel bei einem Auftritt im kanadischen Toronto im Oktober 1974 im Kostüm für den Song Watcher of the Skies (Wikimedia commons)

Eine Antwort auf „Die Welt aus der Perspektive eines Außerirdischen

  1. Avatar von Renate

    Renate

    Ich hätte nie gedacht, dass ein „altes“ Rock-Musikstück derart aktuell sein könnte! – Aber auch die Zeit, in der dieses Stück entstanden ist, war „dystopisch“. Die „Grenzen des Wachstums“ wurden beschworen und Ölkrise, Terroranschläge und der Vietnamkrieg waren aktuell. Vielen Dank für diesen spannenden Adventskalender!

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