Die interinsulare Polizei. Gespräch über Krieg und Militär

Gespräche mit Paula/10

„Du meinst, wir müssen uns gegen­seitig misstrauen, damit wir miteinan­der in Frie­den leben können? Was aber, wenn wir am Ende selbst von der inneren Bestie, die wir für die ständige Kampfbereitschaft befreien müssen, aufgefressen werden?“

Podcast /Lesung

Wenn Paula spricht, hört es sich für mich stets so an, als würde ein exotischer Vogel singen. Oder viel­mehr: Es hört sich so an, wie ich mir den Gesang eines exoti­schen Vo­gels vor­stelle. Schließlich kenne ich exoti­sche Vögel nur aus dem Zoo. Ob sie in ihrer natür­lichen Umgebung genauso singen wie hinter Git­tern, kann ich nicht beurteilen.

Mein Eindruck, Paula würde beim Sprechen singen, rührt wohl vor allem daher, dass es in ihrer Sprache sehr viele Vokale gibt. Wenn sie deutsch spricht, dehnt sie die Vo­kale da­her länger als nötig, als wollte sie dadurch die harte Lan­dung bei den Konso­nanten hin­auszögern. Diese wiederum spricht sie wei­cher aus, als es korrekt wäre, und streut zwi­schendurch zudem ein paar zusätzliche Vo­kale ein, um ihre Härte abzumildern. Dadurch erhält Paulas Sprechweise et­was sehr Melodisches, und ihre Worte wirken auch dann noch verbindlich, wenn sie inhaltlich auf Konfrontations­kurs zu ihrem Ge­sprächspartner geht.

Paula zuzuhören, ist so, als würde einen die getragene Hei­ter­keit eines Südseeliedes an­wehen.

Kriegsverbrechen und das Verbrechen des Krieges

Nur ein einziges Mal habe ich es erlebt, dass Paulas Worte so hart klangen, wie sie ge­meint waren. Das war, als ich beim ge­mein­samen Frühstück mit ihr einen Bericht über einen Kriegs­verbrecher – um welchen es sich handelte, weiß ich nicht mehr – in der Zeitung gelesen habe. „So ein Un­mensch!“ hatte ich, angewidert von den beschriebe­nen Un­taten des Mannes, ge­flucht. „Hof­fentlich wird er für seine Kriegsverbrechen auch zur Verantwortung gezogen!“

Ich sehe noch genau Paulas hochgezogene Augenbrauen vor mir, diese expressive Missfallensbekundung, die so oft ihre Frage­gewitter ankündigt. „Kriegsverbrechen?“ echote sie. „Das ist aber ein merkwürdiges Wort! Der Krieg selbst ist doch das Verbre­chen. Von ‚Kriegsverbrechen‘ zu sprechen, ist ja so, als würde ich von dem Vergewalti­gungsgewalttäter sprechen, statt einfach nur von dem Vergewaltiger.“

Seufzend belehrte ich sie: „Unter Kriegsver­brechen versteht man Kriegshandlungen, die für das Erreichen der eigentli­chen Kriegs­ziele nicht notwendig sind und sich durch un­verhältnis­mäßige Grausamkeit auszeich­nen. Gemeint sind damit insbe­sondere Ver­brechen an der Zivilbevölkerung, aber bei­spiels­weise auch Misshandlungen von Kriegsgefan­genen oder An­griffe auf Menschen, die vor den Kriegshandlungen fliehen.“

„Ansonsten soll es im Krieg aber kein Ver­brechen sein, wenn ich meinen Mitmen­schen töte?“ empörte sich Paula. „Mutiert der etwa zur Spielfigur auf einem Schach­brett, nur weil er eine Uniform trägt? Ver­liert man bei euch seine Men­schenrechte, wenn man in einen Soldatenrock schlüpft?“

Paulas aufbrausende, für sie ganz untypi­sche Art irritierte mich zwar. Dennoch ließ ich mich von ihrer Kritik nicht aus dem Kon­zept bringen. Ich kannte ja ihre Vorliebe dafür, die Dinge zuzuspitzen und sie so zu hinterfragen.

„Die norma­len Kriegs­handlungen unterlie­gen durchaus auch bestimm­ten Regeln“, führte ich aus. „Deshalb gilt bei­spielsweise der Einsatz mancher Arten von Waffen als Kriegsverbre­chen. Biologi­sche und chemi­sche Waffen, Streubomben und Minen sind heutzutage …“

Paula sah mich widerwillig, fast schon ange­widert an. „Wenn der Mord nur sauber ge­nug ausgeführt wird, ist er durch die hehren Ziele gerechtfertigt“, unterbrach sie mich. „Ist es das, was du sagen willst?“

Jetzt begann auch ich mich allmählich zu echauffieren – in ers­ter Linie wohl deshalb, weil mich Paulas anklagender Ton, den ich von ihr einfach nicht gewohnt war, beunru­higte.

„Man kann doch hier nicht von ‚Mord‘ spre­chen!“ protes­tierte ich. „Einen Krieg bricht doch niemand einfach so vom Zaun. Er ist immer die Ultima Ratio der Politik, ein Mit­tel, das man einsetzt, wenn alle diplomati­schen Verständigungsversuche versagt ha­ben. Dann aber geht es stets um den Dienst am Va­terland, darum, das eigene Leben in den Dienst von etwas Hö­herem zu stellen und es notfalls auch dafür zu opfern. Jeman­den, der so etwas auf sich nimmt, kann man doch nicht als ‚Mörder‘ bezeichnen!“

„Und was ist mit denen, die dein Held bei seinem ‚Dienst am Vaterland‘ tötet?“ setzte Paula ihr argumentatives Sperrfeuer fort. „Werden die in ihm auch keinen Mörder se­hen?“

„Der Krieg ist nun einmal kein Ringelreihen“, erwiderte ich kühl. „Wenn unsere Soldaten angegriffen werden, werden sie sich ja wohl noch verteidigen dürfen!“

Paula verzog missmutig das Gesicht. Es war ihr deutlich anzu­merken, dass sie mit meiner Argumentation ganz und gar nicht einver­standen war. „Was passiert eigentlich mit denen, die nicht bereit sind, für ihr Vater­land zu töten?“ wollte sie wissen.

Die provokante Art der Fragestellung ging mir zwar gegen den Strich. Da ich die Argu­mente aber auf meiner Seite zu haben glaubte, gelang es mir trotzdem, kühlen Kopf zu be­wahren.

„Generell ist das ja nur dann ein Problem, wenn die Armee aus Wehrpflichtigen be­steht“, führte ich aus. „In die­sem Fall exis­tiert aber meist auch die Möglichkeit der Wehr­dienstverweige­rung. Dann muss man in der Regel irgendei­nen Ersatzdienst leis­ten, wird also beispielsweise als Sanitäter eingesetzt oder als Bausoldat.“

„Dem Krieg dienen muss man aber trotz­dem?“ hakte Paula nach.

„In gewisser Weise schon“, räumte ich ein. „Nur eben nicht an vorderster Front. Aber das gilt, wie gesagt, nur für den Fall, dass es eine allgemeine Wehrpflicht gibt. Wir haben jedoch mittlerweile eine reine Berufsar­mee.“

„Ihr macht also das Töten zum Beruf? Ihr bildet Leute dafür aus, dass sie andere töten – und bezahlt sie dann auch noch dafür?“ fragte mich Paula herausfordernd. Es war ein ab­sichtli­ches Missverstehen meiner Worte, eine ganz bewusste Provo­kation.

Schmallippig entgegnete ich: „Wir bilden Leute dafür aus, das sie unser Land im Kriegsfall verteidigen und unsere Inte­ressen, wenn nötig, auch im Ausland vertreten. Aus deinem Mund hört es sich ja so an, als wür­den wir Killer-Camps unterhalten!“

Etwas sanfter, fast schon mitleidig setzte Paula hinzu: „Aber habt ihr denn gar keine Angst vor dem, was eure Kampfaus­bildung aus den Menschen macht? Davor, dass ihr die Bestie in ihnen ermuntert, ihr Haupt zu erheben? Dass diejenigen, die ihr dieser Bes­tie ausliefert, innerlich von ihr aufgefressen werden und – wenn sie ihr nicht gleich ganz zum Opfer fal­len – niemals mehr ein nor­males Mitglied der Gemeinschaft werden kön­nen?“

Das „posttraumatische Belastungssyndrom“ kam mir in den Sinn. Ich hütete mich jedoch davor, es zu erwähnen. Paula war sich, wie ich fand, ihrer Sache auch so schon zu si­cher. Stattdessen beschloss ich, die Frage­richtung umzudrehen.

„Lieber werde ich von inneren als von äuße­ren Bestien auf­ge­fressen – und die wird es bei euch doch sicher auch ge­ben“, konterte ich. „Also werdet ihr wohl oder übel auch Vorsichts­maßnahmen ergreifen müssen, um ihnen nicht zum Opfer zu fallen.“

„Das stimmt“, gab Paula unumwunden zu. „Wir haben uns mit den anderen Inseln un­serer Region auf die Gründung einer ge­meinsamen Polizei geeinigt, die bei Kon­fliktfällen einschrei­tet.“

„Siehst du“, triumphierte ich. „Ganz ohne Gewalt geht es bei euch eben auch nicht! Und ob man die Verteidigungstruppe nun ‚Polizei‘ oder ‚Armee‘ nennt, ist doch im Grunde einer­lei.“

„Das würde ich nicht sagen“, widersprach mir Paula. „Das Be­sondere an unserer inter­insularen Polizei ist ja gerade, dass sie völlig autonom handelt. Dadurch kann es auch zu keiner Ver­mischung der Maßnahmen zur Konfliktlösung mit den speziellen Interessen einzelner Inseln kommen.“

Ich versuchte, Paula mit ihren eigenen ar­gumentativen Mit­teln zu schlagen, und schoss augenblicklich den nächsten Frage­pfeil ab: „Aber Gewalt darf eure Polizei doch wohl auch anwenden – oder wie soll sie sonst den Frieden gegen gewaltbereite An­grei­fer durchsetzen?“

„Unsere Polizisten sind mit Betäubungs­pfeilen ausgestattet, die ein besonders schnell wirksames Gift abgeben“, erläu­terte Paula. „Auch dieses Mittel darf allerdings nur im äu­ßersten Notfall eingesetzt wer­den.“

Vertrauensselige Verteidigung?

Ich stellte mir vor, wie Paulas friedvolle In­sulaner auf die Annähe­rung einer Kriegs­flotte hin mit Rauchzeichen die Polizei ver­ständigen und wie sich die wackeren Insel­verteidi­ger dann mit Pfeil und Bogen der feindlichen Armada entge­genstellen. Diese Vorstel­lung löste, zu­sam­men mit Paulas fei­er­li­chem Ernst, einen hys­teri­schen Lach­an­fall in mir aus, den ich nur schwer unterdrücken konnte. Ich versuchte zwar, ihn durch künstli­ches Husten zu kaschieren, konnte meinen Zustand aber doch nicht vor Paula verbergen.

„Ich wüsste nicht, was da­ran komisch sein soll!“ wies sie mich verschnupft zurecht. „Findest du un­sere Bemühungen, unsere Konflikte friedlich zu lösen, denn so lächer­lich?“

„Nein-nein“, versuchte ich sie zu besänfti­gen, „ganz und gar nicht. Es ist nur …“ – der Lachreiz war noch immer so stark, dass ich ihn nur unterdrücken konnte, indem ich mich mit aller Kraft in den Unterarm kniff – „… eure Konfliktlösungsstrate­gie setzt doch schon das voraus, was durch sie erst hervorge­bracht werden soll: die Bereitschaft aller Betei­ligten, sich einer Instanz zur friedlichen Konfliktbeilegung zu unterwerfen. Was könnte eure gewaltfreie Polizei denn aus­richten, wenn eines eurer Mini-Inselreiche plötzlich beschließen würde, die anderen mit modernen Waffensystemen zu attackieren?“

Zögernd erwiderte Paula: „Dagegen wären wir natürlich machtlos. Eigentlich kann das aber gar nicht passieren. Un­ser Konfliktlö­sungssystem beruht ja auf einer von allen Mit­gliedern des Inselverbunds unterzeichne­ten Vereinbarung, die nicht nur den Einsatz, sondern auch die Produk­tion tödlicher Waf­fen ächtet, weil deren Herstellung und Er­probung in der Ver­gangenheit stets der erste Schritt zu ihrer Anwendung war.“

„Siehst du“, resümierte ich väterlich, „das meine ich eben. Ihr seid einfach zu vertrau­ensselig. All die tödlichen Waffen sind nun einmal in der Welt – und wer ihnen heute ab­schwört, sieht sie morgen vielleicht als probates Mittel zur Durchsetzung sei­ner In­teressen an. Du selbst hast doch von der Bestie gesprochen, die in jedem Menschen lauert. Nun, und alles, was wir mit unserer Armee tun, ist doch, diese Bestie unter Kon­trolle zu halten.“

Paula erwiderte nichts. Sollte ich dieses Mal tatsächlich das letzte Wort behalten? Sie­gessicher setzte ich hinzu: „Anders ausge­drückt: Wo ihr euch durch euer kind­liches Vertrauen zueinander der Gefahr aussetzt, irgendwann von dieser Bestie überwältigt zu werden, bewahren wir uns ein gesundes Misstrauen im Um­gang miteinander, weil wir wissen, dass diese Bestie in jedem von uns schläft und für uns alle je­derzeit zu einer tödlichen Bedrohung werden kann.“

Paula schwieg noch immer. Nachdenk­lich sah sie zum Fenster hinaus, ob­wohl draußen nichts als die gegen­über­liegende Häuser­wand zu sehen war. Nach einer Weile fragte sie mich mit leiser Stimme: „Du meinst, wir müssen uns gegen­seitig misstrauen, damit wir miteinan­der in Frie­den leben können?“

„Ich würde es“, prä­zisierte ich, „so sa­gen: Nur auf dem Bo­den eines gesunden Miss­trauens kann jenes Vertrauen ge­dei­hen, das die friedliche Lösung von Konflikten dau­er­haft ermög­licht.“

Daraufhin verfiel Paula endgültig in ein grüblerisches Schweigen. Es hatte auf mich eine ähn­lich beunruhigende Wirkung wie das plötzli­che Verstummen der Vögel bei einer Son­nenfinsternis. Ich fühlte mich wie ein Vater, der seinem Kind aus purer Bes­serwisserei die Existenz des Weihnachts­manns ausgere­det hat.

Jetzt hatte ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Was hatte mich nur geritten, dass ich meiner Südseeschönheit die unbe­schwerte Heiterkeit, die ich so sehr an ihr liebte, ausgetrieben hatte?

Um wieder ein Lachen auf ihr Gesicht zu zaubern, schlug ich Paula schließlich einen Ausflug in eine ihrer Lieblingseis­dielen vor. Aber auch das half nicht. Paula erhob sich zwar von ihrem Platz und ging zur Tür. Als ich je­doch wie selbstver­ständlich nach mei­ner Jacke griff, um sie zu begleiten, sah sie mich an, als hätte sie vergessen, dass ich da war.

„Sei mir nicht böse“, bat sie mich. „Aber ich möchte jetzt lieber allein sein.“

In dem dunklen Flur schimmerten ihre Au­gen wie zwei Schmetterlingsflügel, die sich im Dickicht eines Urwalds verlie­ren.

Bild: . Arnold Böcklin (1827 – 1901): Der Krieg (1896); Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gale­rie Neue Meister

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