Gespräche mit Paula/10
„Du meinst, wir müssen uns gegenseitig misstrauen, damit wir miteinander in Frieden leben können? Was aber, wenn wir am Ende selbst von der inneren Bestie, die wir für die ständige Kampfbereitschaft befreien müssen, aufgefressen werden?“
Wenn Paula spricht, hört es sich für mich stets so an, als würde ein exotischer Vogel singen. Oder vielmehr: Es hört sich so an, wie ich mir den Gesang eines exotischen Vogels vorstelle. Schließlich kenne ich exotische Vögel nur aus dem Zoo. Ob sie in ihrer natürlichen Umgebung genauso singen wie hinter Gittern, kann ich nicht beurteilen.
Mein Eindruck, Paula würde beim Sprechen singen, rührt wohl vor allem daher, dass es in ihrer Sprache sehr viele Vokale gibt. Wenn sie deutsch spricht, dehnt sie die Vokale daher länger als nötig, als wollte sie dadurch die harte Landung bei den Konsonanten hinauszögern. Diese wiederum spricht sie weicher aus, als es korrekt wäre, und streut zwischendurch zudem ein paar zusätzliche Vokale ein, um ihre Härte abzumildern. Dadurch erhält Paulas Sprechweise etwas sehr Melodisches, und ihre Worte wirken auch dann noch verbindlich, wenn sie inhaltlich auf Konfrontationskurs zu ihrem Gesprächspartner geht.
Paula zuzuhören, ist so, als würde einen die getragene Heiterkeit eines Südseeliedes anwehen.
Kriegsverbrechen und das Verbrechen des Krieges
Nur ein einziges Mal habe ich es erlebt, dass Paulas Worte so hart klangen, wie sie gemeint waren. Das war, als ich beim gemeinsamen Frühstück mit ihr einen Bericht über einen Kriegsverbrecher – um welchen es sich handelte, weiß ich nicht mehr – in der Zeitung gelesen habe. „So ein Unmensch!“ hatte ich, angewidert von den beschriebenen Untaten des Mannes, geflucht. „Hoffentlich wird er für seine Kriegsverbrechen auch zur Verantwortung gezogen!“
Ich sehe noch genau Paulas hochgezogene Augenbrauen vor mir, diese expressive Missfallensbekundung, die so oft ihre Fragegewitter ankündigt. „Kriegsverbrechen?“ echote sie. „Das ist aber ein merkwürdiges Wort! Der Krieg selbst ist doch das Verbrechen. Von ‚Kriegsverbrechen‘ zu sprechen, ist ja so, als würde ich von dem Vergewaltigungsgewalttäter sprechen, statt einfach nur von dem Vergewaltiger.“
Seufzend belehrte ich sie: „Unter Kriegsverbrechen versteht man Kriegshandlungen, die für das Erreichen der eigentlichen Kriegsziele nicht notwendig sind und sich durch unverhältnismäßige Grausamkeit auszeichnen. Gemeint sind damit insbesondere Verbrechen an der Zivilbevölkerung, aber beispielsweise auch Misshandlungen von Kriegsgefangenen oder Angriffe auf Menschen, die vor den Kriegshandlungen fliehen.“
„Ansonsten soll es im Krieg aber kein Verbrechen sein, wenn ich meinen Mitmenschen töte?“ empörte sich Paula. „Mutiert der etwa zur Spielfigur auf einem Schachbrett, nur weil er eine Uniform trägt? Verliert man bei euch seine Menschenrechte, wenn man in einen Soldatenrock schlüpft?“
Paulas aufbrausende, für sie ganz untypische Art irritierte mich zwar. Dennoch ließ ich mich von ihrer Kritik nicht aus dem Konzept bringen. Ich kannte ja ihre Vorliebe dafür, die Dinge zuzuspitzen und sie so zu hinterfragen.
„Die normalen Kriegshandlungen unterliegen durchaus auch bestimmten Regeln“, führte ich aus. „Deshalb gilt beispielsweise der Einsatz mancher Arten von Waffen als Kriegsverbrechen. Biologische und chemische Waffen, Streubomben und Minen sind heutzutage …“
Paula sah mich widerwillig, fast schon angewidert an. „Wenn der Mord nur sauber genug ausgeführt wird, ist er durch die hehren Ziele gerechtfertigt“, unterbrach sie mich. „Ist es das, was du sagen willst?“
Jetzt begann auch ich mich allmählich zu echauffieren – in erster Linie wohl deshalb, weil mich Paulas anklagender Ton, den ich von ihr einfach nicht gewohnt war, beunruhigte.
„Man kann doch hier nicht von ‚Mord‘ sprechen!“ protestierte ich. „Einen Krieg bricht doch niemand einfach so vom Zaun. Er ist immer die Ultima Ratio der Politik, ein Mittel, das man einsetzt, wenn alle diplomatischen Verständigungsversuche versagt haben. Dann aber geht es stets um den Dienst am Vaterland, darum, das eigene Leben in den Dienst von etwas Höherem zu stellen und es notfalls auch dafür zu opfern. Jemanden, der so etwas auf sich nimmt, kann man doch nicht als ‚Mörder‘ bezeichnen!“
„Und was ist mit denen, die dein Held bei seinem ‚Dienst am Vaterland‘ tötet?“ setzte Paula ihr argumentatives Sperrfeuer fort. „Werden die in ihm auch keinen Mörder sehen?“
„Der Krieg ist nun einmal kein Ringelreihen“, erwiderte ich kühl. „Wenn unsere Soldaten angegriffen werden, werden sie sich ja wohl noch verteidigen dürfen!“
Kriegsdienst und Dienst am Krieg
Paula verzog missmutig das Gesicht. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie mit meiner Argumentation ganz und gar nicht einverstanden war. „Was passiert eigentlich mit denen, die nicht bereit sind, für ihr Vaterland zu töten?“ wollte sie wissen.
Die provokante Art der Fragestellung ging mir zwar gegen den Strich. Da ich die Argumente aber auf meiner Seite zu haben glaubte, gelang es mir trotzdem, kühlen Kopf zu bewahren.
„Generell ist das ja nur dann ein Problem, wenn die Armee aus Wehrpflichtigen besteht“, führte ich aus. „In diesem Fall existiert aber meist auch die Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung. Dann muss man in der Regel irgendeinen Ersatzdienst leisten, wird also beispielsweise als Sanitäter eingesetzt oder als Bausoldat.“
„Dem Krieg dienen muss man aber trotzdem?“ hakte Paula nach.
„In gewisser Weise schon“, räumte ich ein. „Nur eben nicht an vorderster Front. Aber das gilt, wie gesagt, nur für den Fall, dass es eine allgemeine Wehrpflicht gibt. Wir haben jedoch mittlerweile eine reine Berufsarmee.“
„Ihr macht also das Töten zum Beruf? Ihr bildet Leute dafür aus, dass sie andere töten – und bezahlt sie dann auch noch dafür?“ fragte mich Paula herausfordernd. Es war ein absichtliches Missverstehen meiner Worte, eine ganz bewusste Provokation.
Schmallippig entgegnete ich: „Wir bilden Leute dafür aus, das sie unser Land im Kriegsfall verteidigen und unsere Interessen, wenn nötig, auch im Ausland vertreten. Aus deinem Mund hört es sich ja so an, als würden wir Killer-Camps unterhalten!“
Etwas sanfter, fast schon mitleidig setzte Paula hinzu: „Aber habt ihr denn gar keine Angst vor dem, was eure Kampfausbildung aus den Menschen macht? Davor, dass ihr die Bestie in ihnen ermuntert, ihr Haupt zu erheben? Dass diejenigen, die ihr dieser Bestie ausliefert, innerlich von ihr aufgefressen werden und – wenn sie ihr nicht gleich ganz zum Opfer fallen – niemals mehr ein normales Mitglied der Gemeinschaft werden können?“
Wie die Inselpolizei funktioniert
Das „posttraumatische Belastungssyndrom“ kam mir in den Sinn. Ich hütete mich jedoch davor, es zu erwähnen. Paula war sich, wie ich fand, ihrer Sache auch so schon zu sicher. Stattdessen beschloss ich, die Fragerichtung umzudrehen.
„Lieber werde ich von inneren als von äußeren Bestien aufgefressen – und die wird es bei euch doch sicher auch geben“, konterte ich. „Also werdet ihr wohl oder übel auch Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, um ihnen nicht zum Opfer zu fallen.“
„Das stimmt“, gab Paula unumwunden zu. „Wir haben uns mit den anderen Inseln unserer Region auf die Gründung einer gemeinsamen Polizei geeinigt, die bei Konfliktfällen einschreitet.“
„Siehst du“, triumphierte ich. „Ganz ohne Gewalt geht es bei euch eben auch nicht! Und ob man die Verteidigungstruppe nun ‚Polizei‘ oder ‚Armee‘ nennt, ist doch im Grunde einerlei.“
„Das würde ich nicht sagen“, widersprach mir Paula. „Das Besondere an unserer interinsularen Polizei ist ja gerade, dass sie völlig autonom handelt. Dadurch kann es auch zu keiner Vermischung der Maßnahmen zur Konfliktlösung mit den speziellen Interessen einzelner Inseln kommen.“
Ich versuchte, Paula mit ihren eigenen argumentativen Mitteln zu schlagen, und schoss augenblicklich den nächsten Fragepfeil ab: „Aber Gewalt darf eure Polizei doch wohl auch anwenden – oder wie soll sie sonst den Frieden gegen gewaltbereite Angreifer durchsetzen?“
„Unsere Polizisten sind mit Betäubungspfeilen ausgestattet, die ein besonders schnell wirksames Gift abgeben“, erläuterte Paula. „Auch dieses Mittel darf allerdings nur im äußersten Notfall eingesetzt werden.“
Vertrauensselige Verteidigung?
Ich stellte mir vor, wie Paulas friedvolle Insulaner auf die Annäherung einer Kriegsflotte hin mit Rauchzeichen die Polizei verständigen und wie sich die wackeren Inselverteidiger dann mit Pfeil und Bogen der feindlichen Armada entgegenstellen. Diese Vorstellung löste, zusammen mit Paulas feierlichem Ernst, einen hysterischen Lachanfall in mir aus, den ich nur schwer unterdrücken konnte. Ich versuchte zwar, ihn durch künstliches Husten zu kaschieren, konnte meinen Zustand aber doch nicht vor Paula verbergen.
„Ich wüsste nicht, was daran komisch sein soll!“ wies sie mich verschnupft zurecht. „Findest du unsere Bemühungen, unsere Konflikte friedlich zu lösen, denn so lächerlich?“
„Nein-nein“, versuchte ich sie zu besänftigen, „ganz und gar nicht. Es ist nur …“ – der Lachreiz war noch immer so stark, dass ich ihn nur unterdrücken konnte, indem ich mich mit aller Kraft in den Unterarm kniff – „… eure Konfliktlösungsstrategie setzt doch schon das voraus, was durch sie erst hervorgebracht werden soll: die Bereitschaft aller Beteiligten, sich einer Instanz zur friedlichen Konfliktbeilegung zu unterwerfen. Was könnte eure gewaltfreie Polizei denn ausrichten, wenn eines eurer Mini-Inselreiche plötzlich beschließen würde, die anderen mit modernen Waffensystemen zu attackieren?“
Zögernd erwiderte Paula: „Dagegen wären wir natürlich machtlos. Eigentlich kann das aber gar nicht passieren. Unser Konfliktlösungssystem beruht ja auf einer von allen Mitgliedern des Inselverbunds unterzeichneten Vereinbarung, die nicht nur den Einsatz, sondern auch die Produktion tödlicher Waffen ächtet, weil deren Herstellung und Erprobung in der Vergangenheit stets der erste Schritt zu ihrer Anwendung war.“
„Siehst du“, resümierte ich väterlich, „das meine ich eben. Ihr seid einfach zu vertrauensselig. All die tödlichen Waffen sind nun einmal in der Welt – und wer ihnen heute abschwört, sieht sie morgen vielleicht als probates Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen an. Du selbst hast doch von der Bestie gesprochen, die in jedem Menschen lauert. Nun, und alles, was wir mit unserer Armee tun, ist doch, diese Bestie unter Kontrolle zu halten.“
Paula erwiderte nichts. Sollte ich dieses Mal tatsächlich das letzte Wort behalten? Siegessicher setzte ich hinzu: „Anders ausgedrückt: Wo ihr euch durch euer kindliches Vertrauen zueinander der Gefahr aussetzt, irgendwann von dieser Bestie überwältigt zu werden, bewahren wir uns ein gesundes Misstrauen im Umgang miteinander, weil wir wissen, dass diese Bestie in jedem von uns schläft und für uns alle jederzeit zu einer tödlichen Bedrohung werden kann.“
Misstrauen als Basis für Vertrauen?
Paula schwieg noch immer. Nachdenklich sah sie zum Fenster hinaus, obwohl draußen nichts als die gegenüberliegende Häuserwand zu sehen war. Nach einer Weile fragte sie mich mit leiser Stimme: „Du meinst, wir müssen uns gegenseitig misstrauen, damit wir miteinander in Frieden leben können?“
„Ich würde es“, präzisierte ich, „so sagen: Nur auf dem Boden eines gesunden Misstrauens kann jenes Vertrauen gedeihen, das die friedliche Lösung von Konflikten dauerhaft ermöglicht.“
Daraufhin verfiel Paula endgültig in ein grüblerisches Schweigen. Es hatte auf mich eine ähnlich beunruhigende Wirkung wie das plötzliche Verstummen der Vögel bei einer Sonnenfinsternis. Ich fühlte mich wie ein Vater, der seinem Kind aus purer Besserwisserei die Existenz des Weihnachtsmanns ausgeredet hat.
Jetzt hatte ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Was hatte mich nur geritten, dass ich meiner Südseeschönheit die unbeschwerte Heiterkeit, die ich so sehr an ihr liebte, ausgetrieben hatte?
Um wieder ein Lachen auf ihr Gesicht zu zaubern, schlug ich Paula schließlich einen Ausflug in eine ihrer Lieblingseisdielen vor. Aber auch das half nicht. Paula erhob sich zwar von ihrem Platz und ging zur Tür. Als ich jedoch wie selbstverständlich nach meiner Jacke griff, um sie zu begleiten, sah sie mich an, als hätte sie vergessen, dass ich da war.
„Sei mir nicht böse“, bat sie mich. „Aber ich möchte jetzt lieber allein sein.“
In dem dunklen Flur schimmerten ihre Augen wie zwei Schmetterlingsflügel, die sich im Dickicht eines Urwalds verlieren.
Bild: . Arnold Böcklin (1827 – 1901): Der Krieg (1896); Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister
