Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Kaiserhorst
Das Erhabene und das Schreckliche – nirgends sind sie einander näher als in den Bergen. Dies gilt für diese selbst, aber auch für unseren Umgang mit ihnen.
Ist es nicht seltsam, dass Menschen die Welt der Berge als schön empfinden können? Eine Welt, die nicht für sie geschaffen ist, eine Welt, in der alles sie zurückweist, in der jeder lockere Stein ihren Tod bedeuten kann? Eine Welt, in der jeder Windstoß von jenen Elementarkräften gespeist ist, deren entfesseltes Zepter im Flachland als „Unwetter“ gefürchtet wird?
Aber vielleicht ist es ja gerade das, was uns an den Bergen anzieht: dass sie uns ein Fenster in die Welt des absolut Fremden, ganz Anderen öffnen.
Die naheliegendste Haltung im Angesicht der Berge ist folglich die der Kontemplation, der Versenkung in die unendliche Harmonie, die in den sich bis zum Horizont fortzeugenden Gebirgsketten und der bizarren Formensprache der Felsen verborgen ist, in ihren wie zum Gebet gefalteten Kämmen, in denen wir unser ehrfürchtiges Staunen vor der unermesslichen Schöpferkraft gespiegelt finden, unser kindliches Flehen, dass diese Kraft uns nicht aus ihrer Gnade fallen lassen möge.
Nirgends wird die Nähe des Erhabenen zum Schrecklichen so deutlich wie in den Bergen. Und das ist nicht nur eine Frage der Perspektive – in dem Sinne, dass das Erhabene sich als das Schreckliche offenbart, wenn wir ihm zu nahe kommen und von seiner unbändigen Kraft zermalmt werden.
Das Schreckliche tritt vielmehr auch dort an die Stelle des Erhabenen, wo wir dessen Eigen-Sinn missachten und es zu zähmen versuchen; wo wir uns mit gigantischen Stahlwürmern durch die Felsmassive fressen und Betonpfeiler in deren Haut rammen; wo wir auf Stahlseilen wie räuberische Riesenspinnen zu den Gipfeln gleiten. Auch hierdurch bleibt von dem Zweiklang aus Erhabenem und Schrecklichem nur Letzteres übrig.
Buch (Hardcover) erscheint im Frühjahr 2024
Bild: Albert Bierstadt (1830 – 1902): Ein Sturm in den Rocky Mountains (1866); New York, Brooklyn Museum (Wikimedia commons)

