Hoffen auf den blauen Flaschengeist / Hoping for the Blue Genie

Đorđe (Djordje) Balašević: Ringišpil

Musikalischer Adventskalender 2023: 18. Serbien / Musical Advent Calendar 2023: 18. Serbia

Djordje Balaševićs Lied Ringišpil (Karussell) aus dem Jahr 1991 kreist um die Melancholie eines grauen Regentages. Es lässt sich aber auch auf den damals einsetzenden Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaats beziehen.

English Version

Podcast

Karussell

Es regnet schon den ganzen Tag.
Der Himmel hat beschlossen,
die Erde zu überfluten.
Tagelang hängt über der Stadt
der Vorhang des Regens.

Der Regen fällt,
das tut er immer so.
Mir aber ist das so einerlei
wie das nördliche Banat.
Das Leben ist mehr oder weniger dasselbe,
ob mit oder ohne Regen.

Die Zeit zieht sich hin wie ein Güterzug.
Was soll ich nur anfangen heute Abend?
Na, wie immer:
„Kellner, einen Latte macchiato!“ – „Sofort …“

Die Zeit verrinnt,
das tut sie immer so,
und alles ist so seicht wie ein flacher Teller.
Selbst der Himmel ist ein Spiegelbild der Hölle –
nicht ein einziges Segel
webt Hoffnung in den Horizont.

Komm, setz es in Bewegung,
das Karussell in meinem Kopf,
niemand bringt das fertig außer dir.
Ohne dich erstarren die Holzpferdchen
traurig in der Kälte.

Erscheine, Geist,
tauch auf aus deiner blauen Flasche,
erfüll mir wenigstens einen Wunsch
und gib der Welt ein wenig Farbe,
du, mein kleines Wunder!

Die Nacht taumelt
wie eine überreife Frucht.
Die Zeiten sind hart,
aber ich bin härter als sie.
Nur die Erde wird mich irgendwann
mit ihrer Kraft nach unten ziehen.

Ich verstehe mich schlecht
auf die samstäglichen Spiele in der Menge.
Aber ein wenig begreife ich die Logik
dieser alles in sich aufsaugenden Schwämme:
Wenn man berauscht ist, fällt es leichter,
die Strafe auf sich zu nehmen,
die sich „Leben“ nennt.

Komm, setz es in Bewegung …

Ich bin müde, ich gebe auf,
das alles drückt mich nieder wie ein Bügelei¬sen.
Komm zu mir, erscheine, Flaschengeist,
und gib der Welt ein klein wenig Schwung!
Du allein kannst das Wunder vollbringen,
heute brauche ich dich mehr denn je.
Gib der Welt ein klein wenig Verrücktheit!
Gib der Welt ein klein wenig Schwung!

Komm, setz es in Bewegung …

Erscheine, Geist …

Ich bin müde, ich gebe auf …

Đorđe (Djordje) Balašević: Ringišpil aus: Marim ja, 1991

Live-Aufnahme (1994):

Albumfassung

das nördliche Banat: Wortspiel mit „flach“ und „gleichgültig“, deren serbische Entsprechungen ähnlich klingen. – Der nördliche Teil des Banats ist eine Tiefebene und gehört im Westen (unweit von Novi Sad, der Heimatstadt von Balašević) zu Serbien. Der nordöstliche sowie der südliche Teil, das so genannte „Banater Gebirge“, gehören zu Rumänien, wo auch die deutschsprachige Minderheit des Banats (die „Banater Schwaben“) zu Hause ist.

blaue Flasche: hier wohl eine Anspielung auf den Sliwowitz, den hochprozentigen Pflaumenschnaps, der in mehreren Ländern Osteuropas eine Art Nationalgetränk ist

Gib der Welt ein klein wenig Schwung: Das serbische Original spielt hier auf die Drehleier („vergli“) der Karussellmusik an, an die auch die Akkordeonklänge in dem Lied erinnern.

Jugoslawien im Jahr 1991

1991 war fast ganz Europa in Feierlaune. Der Eiserne Vor­hang war gefallen, überall blühten die Freiheitsträume. Freies Reisen, freies Denken, freies Handeln – der Freiheit sollten keinerlei Schranken mehr gesetzt werden, der Traum von der grenzenlosen Freiheit war in aller Munde.

Nur in Jugoslawien herrschte schon vor dem großen europäischen Freiheitsrausch Katerstimmung. Die staatlich verordnete Misswirtschaft hatte zu einer Hy­perinflation geführt, durch welche die systemimmanenten Mängel der staatlichen Planwirtschaft sich zu einer ma­nifesten sozialen Krise ausgeweitet hatten. Zusätzlich befeuert wurde diese dadurch, dass der ökonomische Bankrott die lange Zeit verdeckten nationalistischen Ressentiments in dem Vielvölkerstaat offen zutage treten ließ.

So wurde die Forderung nach einer Neu­berechnung des Finanzausgleichs, bei der sowohl die reicheren als auch die ärmeren Landesteile eine Erhöhung ihrer Zuwen­dungen aus dem Staatshaushalt verlangten, rasch von ethnischen Spannungen überlagert. Diese mündeten im Juni 1991, im letztlich erfolgreichen Unabhängigkeitskampf des slowenischen Volkes, in eine erste kriegerische Auseinanderset­zung. Das war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Kriegen und brutalen ethnischen Säuberungen, die das freiheitstrunkene Europa schlagartig auf den archaischen Boden seiner Realität zurückholten.

Fin-de-Siécle-Stimmung des Liedes

In dieser trübselig-aufgeheizten Atmosphäre ist Đorđe (Djordje) Balaševićs Lied Ringišpil (Karussell) entstanden. Der Singer-Songwriter, der 1953 als Sohn eines serbischen Vaters und einer kroatisch-ungarischen Mutter in Novi Sad geboren wurde und dort 2021 auch gestorben ist, beschreibt darin die Melancholie eines Regentages, an dem nur die Reise in das blaue Land des Alkohols, die Betäubung durch den doppelsinnigen „Schwindel“, den der Rausch einem schenkt, Erleichterung verspricht.

Bezieht man den Song auf die historische Situation, in der er entstanden ist, so ergeben sich Parallelen zur Fin-de-Siècle- und Décadence-Literatur an der Wende zum 20. Jahrhundert. Diese erlebte in Wien, dem Zentrum des damaligen Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn, mit Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler oder auch Felix Dörmann eine besondere Blüte.

Die Wiener Décadence-Stimmung der Jahrhundertwende lässt sich dabei zum einen auf sozioökonomische und sozialpsychologische Aspekte zurückführen – also etwa den Zusammenbruch der bisherigen geistigen Fundamente sowie der sozialen und ökonomischen Ordnung durch die sich beschleunigende Industrialisierung. Zum anderen kann in der Décadence-Literatur aber auch eine Art Vorahnung des Auseinanderbrechens der Donaumonarchie gesehen werden, das von den Autoren als ein Sinnbild für den Verlust ihrer geistigen Heimat empfunden wurde.

Analog dazu ließe sich auch die melancholische Atmosphäre in Balaševićs Lied als Resultat des Verlusts der geistigen Orientierungsmarken nach dem Bankrott der realsozialistischen Staaten des Ostblocks und als Vorahnung des bevorstehenden Zusammenbruchs des jugoslawischen Vielvölkerstaats deuten.

Ungebrochene Popularität des Liedes

Dies erklärt freilich noch nicht die ungebrochene Popularität von Balaševićs Lied, dessen verschiedene Varianten im Internet millionenfach aufgerufen worden sind. Hierfür ist wohl eher die Nachkriegsdepression in Serbien verantwortlich, wo die materiellen und psychologischen Kriegsfolgen bis heute deutlich zu spüren sind.

Als EU-Beitrittskandidat erhält das Land zwar finanzielle Hilfen aus Brüssel und ist auch immer wieder von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) mit Krediten unterstützt worden. Dafür muss es jedoch einem Sanierungskurs folgen, bei dem die abstrakten, positiven Wachstumsraten mit der Negativfolie einer bitteren sozialen Realität erkauft werden, die von hoher Arbeitslosigkeit und geringen Einkommen geprägt ist.

Hinzu kommt, dass auch in den übrigen Staaten des ehemaligen Ostblocks der einstige Freiheitsrausch rasch einem andauenden Kater gewichen ist. Schnell ist klar geworden, dass eine Freiheit, der keinerlei Schranken gesetzt werden, sich selbst aufhebt, indem sie etwa ökonomische Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse begünstigt, die den sozialen Frieden unterminieren und – wenn sie sich auf den Medienbereich ausdehnen – auch die geistige Freiheit in Frage stellen können.

Vor diesem Hintergrund ist vielerorts eine radikale Gegenbewegung entstanden, die den Traum von der schrankenlosen Freiheit unter einer neuen Abschottungspolitik begraben und die konkreten Freiheitsrechte (Pressefreiheit, freie Wahlen, Gewaltenteilung …) zugunsten einer neuen, nationalistisch gefärbten Führerstaatsideologie abschaffen möchte. Auch diese Entwicklung kann durchaus Anlass für eine Melancholie sein, die manch einen der Verlockung einer Reise in den blauen Alkoholdunst erliegen lässt.

Abgesehen davon braucht es an einem grauen Regentag, wie er in dem Lied besungen wird, aber vielleicht auch keine besonderen Gründe für eine melancholische Gestimmtheit. Dies gilt erst recht, wenn man in einer dieser gesichtslosen Trabantenstädte wohnt, den Schattenkränzen, von denen die leuchtenden Metropolen überall auf der Welt, ganz besonders aber in den Staaten des ehemaligen Ostblocks umgeben sind.

English Version

Hoping for the Blue Genie

Đorđe Balašević: Ringišpil

Đorđe (George) Balašević’s song Ringišpil (Carousel) from 1991 revolves around the melancholy of a grey rainy day. However, it can also be related to the then imminent disintegration of the Yugoslav multi-ethnic state.

Carousel

It’s been raining all day,
the sky has decided
to flood the earth.
For days the curtain of rain
has been hanging over the town.

The rain falls
as it always does.
But to me this is as meaningless
as the northern Banat.
Life is more or less the same,
with or without rain.

Time drags on like a goods train.
What the hell am I going to do tonight?
Well, as usual:
„Waiter, a latte macchiato!“ – „Coming right up…“

Time slips away
as it always does,
and everything is as shallow as a flat plate.
Even the sky is a reflection of hell –
not a single sail
weaves hope into the horizon.

Come on, set it in motion,
the merry-go-round in my head,
no one can bring this about but you.
Without you, the little wooden horses
sadly freeze in the cold.

Come forth, Genie,
rise from your blue bottle,
grant me at least one wish
and give the world a little colour,
you, my little miracle!

The night staggers
like an overripe fruit.
Times are hard,
but I am even harder.
Only the earth will pull me down
with its strength some day.

I am not very good
at roaming in crowds on Saturday.
But I somewhat understand the logic
of these all-absorbing sponges:
When you’re inebriated,
it’s easier to accept the punishment
that they call „life“

Come on, set it in motion …

I am tired, I give up,
all this weighs on me like an iron.
Come to me, Genie, rise up
and give the world a little bit of momentum!
You alone can bring about the miracle,
today I need you more than ever.
Give the world a little bit of madness!
Give the world a little bit of momentum!

Come on, set it in motion …

Come forth, Genie …

I am tired, I give up …

Đorđe (Dzhordzhe) Balašević (Balashevich): Ringišpil from: Marim ja, 1991

Live recording (1994)

Album version

the northern Banat: word play with „flat“ and „indifferent“, whose Serbian equivalents sound similar. – The northern part of Banat is a lowland plain and belongs to Serbia in the west (not far from Novi Sad, Balašević’s hometown). The north-eastern as well as the southern part, the so-called „Banat Mountains“, belong to Romania.

Blue bottle: probably an allusion to Slivovitz, the high-proof plum brandy that is a kind of national drink in several Eastern European countries.

Give the world a little bit of momentum: The Serbian original alludes here to the hurdy-gurdy („vergli“) associated with merry-go-round music, which is also evoked by the accordion sounds in the song.

Yugoslavia in 1991

In 1991, almost the entire European continent was in a celebratory mood. The Iron Curtain had fallen and dreams of freedom were flourishing everywhere. Free travelling, free thinking, free acting – all barriers to freedom were to be removed, the dream of boundless freedom was on everyone’s lips.

In Yugoslavia, by contrast, the mood was gloomy even before the great European freedom frenzy. State-imposed mismanagement had led to hyperinflation, through which the systemic deficiencies of a planned economy had escalated into a massive social crisis. The latter was further fuelled by the fact that the economic bankruptcy caused nationalist resentments, which had long been swept under the carpet in the multi-ethnic state, to erupt openly.

Thus the demand for a recalculation of the financial equalisation system, in which both the richer and the poorer parts of the country requested an increase in their allocations from the state budget, was quickly superimposed by ethnic tensions, which in June 1991, in the ultimately successful struggle for independence of the Slovenian people, led to the first armed conflict. This was the prelude to a whole series of wars and brutal ethnic cleansings that abruptly brought a Europe drunk with freedom back to the archaic ground of its reality.

Fin-de-Siécle Mood of the Song

It is in this simultaneously gloomy and heated atmosphere that Đorđe (George) Balašević’s song Ringišpil (Carousel) was written. In it, the singer-songwriter, who was born in 1953 to a Serbian father and a Croatian-Hungarian mother in Novi Sad and died there in 2021, describes the melancholy of a rainy day, when only the journey to the blue land of alcohol, the numbing dizziness of inebriation, promises relief.

If we relate the song to the historical situation in which it was created, parallels arise with Fin-de-siècle and Décadence literature at the turn of the 20th century. This type of literature was particularly alive in Vienna, the centre of the then multi-ethnic Austro-Hungarian state, with authors such as Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler or Felix Dörmann.

The Viennese Décadence mood can be traced back on the one hand to socio-economic and socio-psychological aspects – for example, the collapse of the previous spiritual orientation framework as well as the social and economic order due to accelerating industrialisation. On the other hand, the Décadence literature can also be seen as a kind of premonition of the collapse of the Danube monarchy, which the authors perceived as a metaphor for the loss of their spiritual home.

Analogously, the melancholic atmosphere in Balašević’s song could also be interpreted as a result of the loss of the spiritual orientation framework after the bankruptcy of the Eastern Bloc’s socialist states and as a premonition of the imminent collapse of the Yugoslav multi-ethnic state.

Unbroken Popularity of the Song

Of course, this does not explain the unbroken popularity of Balašević’s song, whose various versions have been viewed millions of times on the internet. The reason for this is more likely the post-war depression in Serbia, where the material and psychological consequences of the war can still be felt today.

It is true that, as a candidate for EU membership, the country receives financial aid from Brussels and has repeatedly been supported with loans from the World Bank and the International Monetary Fund (IMF). In return, however, it has to follow a restructuring course in which the abstract, positive growth rates are paid for with a bitter social reality characterised by high unemployment and low incomes.

In the other states of the former Eastern Bloc, too, the initial frenzy of freedom quickly gave way to a lingering hangover. It soon became clear that a freedom on which no barriers are imposed cancels itself out, for example by enabling economic concentration and monopolisation processes that undermine social peace and – if extended to the media sphere – can even jeopardise intellectual freedom.

Against this background, a radical counter-movement has emerged in many places that wants to bury the dream of unlimited freedom under a new policy of isolation and tends to abolish civil liberties (freedom of the press, free elections, separation of powers …) in favour of a new, nationalistically shaped leader-state ideology. This development, too, may well be a cause for a melancholy that makes many a person succumb to the temptation of taking refuge in the blue haze of alcohol.

Apart from that, on a grey rainy day, as sung about in the song, perhaps no particular reason is needed for a melancholy mood. This is all the more true for those who live in one of those faceless satellite towns, the shadowy wreaths that surround the shining metropolises all over the world – and which in the states of the former Eastern bloc are even a little greyer than elsewhere.

Bilder / Images: Thomas Wolter: Karussell / Carousel (Pixabay); rom@nski photo: Đorđe Balašević, 2011 (Wikimedia commons)

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