Die Flüchtlingslotterie / The Refugee Lottery

Kari Bremnes: Det kunne skjedd

Musikalischer Adventskalender 2023: 12. Norwegen / Musical Advent Calendar 2023: 14. Norway

Ob eine Flucht vor Hunger, Krieg und Verfolgung erfolgreich ist, ob sie in das ersehnte neue Leben mündet oder schlimmstenfalls im Tod endet, hängt von zahlreichen Zufällen ab. Davon handelt das Lied Det kunne skjedd der norwegischen Singer-Songwriterin Kari Bremnes.

English Version

Podcast:

Es hätte geschehen können

Es hätte geschehen können,
es musste geschehen,
es geschieht jetzt
irgendwo anders.
Es kann geschehen
zu einer anderen Zeit
etwas weiter weg von hier
oder ganz in deiner Nähe.

Für irgendjemanden ist es geschehen,
aber du hast es verpasst,
weil du als Letzter gegangen bist,
weil du als Erster gegangen bist.
Du hattest Glück,
so viel Glück,
weil du der Kleinste warst,
weil du der Größte warst.

Du bist nach links gegangen,
Gott sei Dank,
weil die Sonne hoch am Himmel stand,
weil es geregnet hat.
Du bist nach rechts gegangen,
du hattest Glück,
weil du wach warst,
weil du geschlafen hast.

Du hattest Glück,
dir hat jemand geholfen,
ein Boot kam zur rechten Zeit,
eine Straßenbahn kam zur rechten Zeit.
Du warst allein,
du hast Leute getroffen,
du hast dich nicht bewegt,
du bist gelaufen und gelaufen.

Ein kleiner Strohhalm,
den du erhaschen konntest,
das war deine große Chance,
wirklich:
ein kleiner Strohhalm,
der an dir vorbeigeglitten ist,
ein kleiner Strohhalm,
und du warst frei.

Kari Bremnes: Det kunne skjedd aus: Det vi har (2017)

Live in Düsseldorf (2018):

Die Suche nach Schleichwegen in die Wohlstandsfestung

Wenn Menschen auf der Flucht vor Hunger, Krieg und Verfolgung an unsere Tür klopfen, müsste es eigentlich das Normalste von der Welt sein, ihnen zu helfen. Stattdessen geschieht das Gegenteil: Es wird alles getan, um die Zugbrücken zu unserer Wohlstandsfestung geschlossen zu halten und jene, die trotz allem eine Lücke in dem dichten Mauerwerk finden, in ihr Elend zurückzustoßen.

Möglichkeiten einer legalen Einwanderung gibt es allenfalls für gut ausgebildete Personen. Deren Abwanderung begünstigt aber in den Herkunftsländern einen Brain Drain, der dann wiederum weiterer Elendsmigration Vorschub leistet.

Für alle anderen verkommt der Versuch, einen Schleichweg in die Wohlstandsfestung zu finden, zu einer zynischen Lotterie. Ob ihr Vorhaben gelingt, hängt von einer Reihe von Zufällen ab: davon, ob die Regierungen in den Zielländern gerade mit rechtspopulistischen Parolen auf Stimmenfang gehen; ob die Gerichte die Gesetze entsprechend hart oder human auslegen; ob bei der Überfahrt über das Meer günstiges Wetter herrscht; ob man am Zielort der Reise auf jemanden trifft, der einem weiterhilft.

Ein Leben im Konjunktiv

Eben diese schwer zu ertragende Tatsache, dass heute vor allem der Zufall darüber entscheidet, ob vor Hunger, Krieg und Vertreibung fliehende Menschen einen sicheren Hafen erreichen, thematisiert die norwegische Singer-Songwriterin Kari Bremnes in ihrem Lied. Die einen ziehen das große Los, die anderen eine Niete – die schlimmstenfalls ihren Tod bedeuten kann.

Die einen haben einen günstigen Moment erwischt, die anderen nicht. Die einen haben sich dem Schlaf hingegeben, andere sind lieber wach geblieben. Die einen haben in einer gefahrvollen Situation ausgeharrt, die anderen nicht. Was sie ihrem Ziel näherbringen konnte, haben sie aber erst hinterher erfahren.

So ist der Konjunktiv des Liedes auch gewollt mehrdeutig. „Es hätte geschehen können“ – das kann bedeuten, dass die Flucht gescheitert ist, unter günstigeren Bedingungen dagegen hätte gelingen können. Es kann aber auch genau auf den umgekehrten Fall hindeuten: auf eine geglückte Flucht, die unter anderen Umständen auch hätte scheitern können.

Kari Bremnes – eine engagierte Sängerin

Die Lieder der auf den Lofoten aufgewachsenen Kari Bremnes, die in ihrer Musik klassische Instrumente mit elektronischen Sound-Elementen verknüpft, sind auch sonst oft politisch engagiert. So besingt sie etwa in Rim sin stemme („Rims Stimme“) das Schicksal der 2018 verstorbenen palästinensischen Singer-Songwriterin Rim Banna, die nach einer Stimmbandlähmung ihr wichtigstes Mittel im Kampf für die Rechte ihres Volkes verloren hatte: ihre Stimme.

Das Thema der weiblichen Emanzipation steht im Mittelpunkt des 1998 erschienenen Konzeptalbums Svarta Bjørn („Schwarze Bärin“), in dem Bremnes in zehn Liedern das Leben von Anna Rebekka (Rebecka) Hofstad beleuchtet. Diese war Ende des 19. Jahrhunderts als Köchin in die männlich dominierte Welt der Bahnarbeiter vorgedrungen, die seinerzeit unter oft schwierigen Bedingungen die Gleise für die schwedisch-norwegische Erzbahn verlegen mussten.

Mehr Musik aus Norwegen:

Norwegen: Balladen und Bukowski, Rock und Runen. In: Nordische Musikkulturen (PDF), S. 75 – 90.

English Version

The Refugee Lottery

Kari Bremnes: Det kunne skjedd

Whether a flight from hunger, war and persecution is successful, whether it ends in the desired new life or, in the worst case, in death, depends on numerous coincidences. This is the subject of the song Det kunne skjedd by the Norwegian singer-songwriter Kari Bremnes.

It Could Have Happened

It could have happened,
it had to happen
it’s happening now
somewhere else.
It can happen
at another time
a little further away from here
or right next to you.

It did happen for someone,
but you missed it
because you were the last to leave,
because you were the first to leave.
You were lucky,
so lucky,
because you were the smallest,
because you were the tallest.

You went to the left,
Thank God,
because the sun was high in the sky,
because it was raining.
You went to the right,
you were lucky
because you were awake,
because you were asleep.

You were lucky,
someone helped you,
a boat came at the right time,
a tram came at the right time.
You were alone,
you met people,
you didn’t move,
you walked and walked.

A little straw
which you could catch,
that was your big chance,
indeed:
a little straw
that slipped past you,
one little straw,
and you were free.

Kari Bremnes: Det kunne skjedd from: Det vi har (2017)

Live performance (2018)

Looking for Secret Paths into the Fortress of Prosperity

When people on the run from hunger, war and persecution knock on our door, it should actually be the most normal thing in the world to help them. Instead, the opposite happens: everything is done to keep the drawbridges to our fortress of prosperity closed and to push those who, despite all defensive measures, find a gap in the dense masonry back into misery.

Legal immigration is only possible for well-educated people. Their exodus, however, favours a brain drain in the countries of origin, which in turn encourages further migration.

For everyone else, the attempt to find a sneaky way into the fortress of prosperity becomes a cynical lottery. Whether it is successful depends on a number of coincidences: on whether the governments in the destination countries are currently campaigning for votes with right-wing populist slogans; whether the courts interpret the laws in a correspondingly harsh or humane way; whether the weather is favourable during the sea crossing; whether the refugees meet someone who can help them at the destination of their journey.

A Life in the Subjunctive

In her song, the Norwegian singer-songwriter Kari Bremnes addresses precisely this hardly bearable fact: the fact that today it depends mainly on chance whether people escaping from hunger, war and displacement reach a safe haven. Some hit the jackpot, others draw a blank – which in the worst case can mean their death.

Some have caught a favourable moment, others have not. Some have surrendered to sleep, others have preferred to stay awake. Some have resisted a perilous situation, others have preferred to avoid it. What brought them closer to their goal, however, they will only find out afterwards.

Thus the subjunctive of the song is intentionally ambiguous. „It could have happened“ – this can mean that the escape failed, but could have succeeded under more favourable conditions, but it can also indicate exactly the opposite: a successful escape that could have failed under different circumstances.

Kari Bremnes – a Socially Committed Singer

The songs of Kari Bremnes, who grew up on the Lofoten Islands and combines classical instruments with electronic sound elements in her music, are often politically engaged. In Rim sin stemme („Rim’s voice“), for example, she sings about the fate of the Palestinian singer-songwriter Rim Banna, who died in 2018 after suffering vocal cord paralysis and losing her most important means of fighting for the rights of her people: her voice.

The issue of female emancipation is the focus of the concept album Svarta Bjørn („Black Bear“), released in 1998. Its ten songs revolve around the life of Anna Rebekka (Rebecka) Hofstad. At the end of the 19th century, Hofstad had worked as a cook in the male-dominated world of railway labourers, who at that time had to lay the tracks for the Swedish-Norwegian ore railway under often difficult conditions.

Bilder / Images:

Lat Yip: Flucht über das wogende Meer; Zeichnung mit Bildunterschrift: Für drei Mahlzeiten und die Freiheit habe ich meine Familie und Freunden Tausende von Meilen hinter mir gelassen und bin schließlich in Malaysia gelandet. Alles in der Hoffnung auf Freiheit (Wikimedia commons, August 2004).Lat Yip: Escape to the raging seas; painting with caption: For three meals and freedom I left my family and friends behind Thousands of miles to finally reach Malaysia. All for the hope of freedom (Wikimedia Commons, August 2004); Gunnar Wrobel: Kari Bremnes (2008); Wikimedia commons

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