Ein Lied als Spiegelbild einer grotesken Willkürherrschaft / A Song as a Reflection of a Grotesque Arbitrary Rule

Lyapis Trubyetskoi: Graj!

Musikalischer Adventskalender 2023: 10. Belarus (Weißrussland) / Musical Advent Calendar 2023: 10. Belarus

In ihrem Song Graj! (Spiel!) entwirft die belarussische Band Ljapis Trubjetskoj ein surreales Spiegelbild der Willkürherrschaft in ihrer Heimat. Dabei plädiert sie dafür, wenigstens in Gedankenspielen am Traum von einer Überwindung der Diktatur festzuhalten.

English Version

Podcast:

Spiel!

Irgendwo an einem Fluss,
dort, wo es keine Furt gibt,
tanzen graue Stiere einen Reigen.
In der Nacht gießen sie Ketten aus Gold,
der Ruf des Raben mischt sich dort
mit dem Geheul des Wolfes,
einem Bruder im Geiste.

Ein Feuer brennt dort,
das zum Himmel emporlodert.
Sie trinken Wein und essen Brot dazu,
alte Zigeunerinnen singen für sie.
Sie schlagen mit den Hufen [den Takt],
und im Himmel flackern die Blitze.

Diese Stiere haben ihre eigene Wahrheit:
Sie brauchen keine Sonne,
die Finsternis genügt ihnen.
Sie brauchen keinen Frühling,
sie hätten lieber einen längeren Winter,
damit du, mein Freund,
als Sklave auf dem Ofen schlafen musst.

Spiel! Hör nicht auf,
nach den Träumen deiner Jugend zu suchen!
Spiel! Ruf ihn herbei,
den warmen Blütenzauber des Frühlings!
Spiel! Sing die Lieder paradiesischer Freiheit!
Spiel! Spiel! Vertreib die Stiere,
und das Glück wird zurückkehren!

Die Stiere haben sich betrunken,
sie springen quer durchs Land
und zertreten mit ihren dreckigen Hufen
weiße Handtücher im Schlamm.
Sie springen über die Höfe,
öffnen die Häuser,
und wer sich nicht versteckt,
wird schuldig gesprochen.

Spiel! …

Ляпис Трубецкой (Ljapis Trubjetskoj): Грай (Graj) aus: Vesjolyje Kartinki (Lustige Bilder, 2011)

Videoclip mit Bildsequenzen von regimekritischen Protesten:

Ein Musiker als Staatsfeind

Sergej (Sjarhej) Michalok, Frontmann der Band Ljapis Trubjetskoj, gehörte in der belarussischen Musikszene lange zu den profiliertesten Kritikern des Lukaschenko-Regimes. In seiner Heimat wurde er wie ein Staatsfeind verfolgt, nachdem er dem Diktator einen Genozid am eigenen Volk vorgeworfen hatte. So konnte die Band, die von 1990 bis 2014 existierte, zu­letzt nur noch im Ausland Konzerte geben. Michalok selbst lebt seit 2014 in der Ukraine.

Besonders deutlich tritt die regimekritische Stoßrichtung der Band in dem Album Manifest aus dem Jahr 2008 zutage, auf dem sich auch die Oppositionshymne Belarus Freedom findet. Erkennbar regimekritisch ist jedoch auch der Song Graj (Spiel!) aus dem 2011 erschienenen Album Vesjolyje Kartinki (Lus­tige Bilder). Er lässt sich allgemein auf die Willkürherrschaft autoritärer Machthaber beziehen, ist im gegebenen Zusammenhang aber natürlich in erster Linie als Kritik am Lukaschenko-Regime zu verstehen.

Wenn das Surreale Realität wird

In dem Lied feiert eine Gruppe „grauer Stiere“ – die sprichwörtlichen „hohen Tiere“ – an einem Fluss ein opulentes Gelage. Der Platz ist gut abgeschirmt gegen unerwünschte Besucher – es führt „keine Furt“ dahin.

Das Volk tritt nur in Form unterhaltsamer Folklore in Erscheinung. Sein Hauptzweck ist es, die ewige Feier der Herrschenden zu ermöglichen. Deshalb wünschen diese sich auch keinen Frühling, sondern ein möglichst langes Andauern der „dunklen Zeit“, in der sie das Volk unentdeckt für ihre Machenschaften ausbeuten können.

Wohin das führt, zeigt das drastische Schlussbild des Songs: Als das Gelage vorbei ist, ziehen die Stiere marodierend durch die Straßen, verunreinigen alles, was ihnen in die Quere kommt, und dringen ungefragt in jedes Haus ein, das auf ihrem Weg liegt. Jeden, der sich nicht rechtzeitig verstecken kann, erklären sie für „schuldig“, ohne diese Schuld näher zu begründen.

Gedankenspiele als letzte Brücke in die Freiheit

Als Gegenmittel gegen diese Willkürherrschaft empfiehlt das Lied im Refrain die Verweigerung jeder Form von Anpassung an das Regime. Denn abgesehen davon, dass diese moralisch fragwürdig wäre, verhilft sie einem auch nicht zu mehr Sicherheit: Jeder kann – wie schon die stalinistischen Säuberungen gezeigt haben – ins Visier einer totalitären Staatsmacht geraten, da diese die Normen für staatstreues Handeln und Denken jederzeit in unvorhersehbarer Weise ändern kann.

Anstatt sich dem Regime opportunistisch unterzuordnen, plädiert das Lied deshalb dafür, weiter an seinen Träumen festzuhalten und spielerisch die Utopien zu erproben, die von den Herrschenden in den Schmutz gezogen werden.

Angesichts der brutalen Überwachungs- und Einschüchterungsmethoden, die mittlerweile den Alltag in Belarus bestimmen, kann der spielerische Traum von der Überwindung des Regimes aktuell allerdings nur noch in der Art von „Gedankenspielen“ umgesetzt werden – und selbst diese sind, wie ein Feature von Inga Lizengevic zeigt (s.u.), nicht vor den allgegenwärtigen Blicken des Machtapparats sicher.

Links

Infos zur Band auf russmus.net (englisch)

Weiterer Song der Band in RB: Musik als Hintergrundrauschen. Musikalische Tabuzonen im Radio (S. 7 f.).

Essay zu Weißrussland mit weiteren Songs: Weißrussland – Gesang als Mittel des Widerstands; rotherbaron.com, 17. August 2020.

Einblicke in das Innenleben der weißrussischen Diktatur bietet ein beeindruckendes Feature von Inga Lizengevic:

Gedankenverbrehen in Belarus. Wenn Dystopien lebendig werden. Deutschlandfunk Kultur, 6. Dezember 2022.

In dem Feature spricht die Autorin mit Menschen, die willkürliche Polizeigewalt, Unrechtsjustiz, nächtliche Verhaftungen, unmenschliche Haftbedingungen und lückenlose Überwachung in Belarus am eigenen Leib erlebt haben. Außerdem enthält das Feature Auszüge aus Propagandasendungen des weißrussischen Fernsehens, in denen mit ungezügeltem Hass über Oppositionelle und westliche Länder hergezogen wird.

So entsteht das Bild eines Regimes, das die Lebensregungen der Menschen durch modernste elektronische Überwachungsmethoden bis ins Kleinste kontrolliert und dies mit offener Gewaltanwendung verbindet. Hinzu kommt ein System der Sippenhaft, durch die gegebenenfalls auch Angehörige für regimekritische Äußerungen Einzelner zur Rechenschaft gezogen werden. Dies führt zu einer Kultur der Angst, in der sich niemand mehr offen zu reden traut.

Besonders eindrucksvoll ist die Gegenüberstellung der inhumanen Herrschaftsmechanismen mit Auszügen aus George Orwells Roman 1984.  Die Zitate zeigen auf beklemmende Weise, dass die Realität die Fiktion eingeholt, wenn nicht sogar überholt  hat.

Dies sollte uns auch in der noch immer relativ freien westlichen Welt eine Mahnung sein. Soziale Medien und Internet haben etwas Janusköpfiges: Sie können geistige Freiheit ermöglichen, sie aber auch wirkungsvoll unterbinden. Um Letzteres zu verhindern, müssen rechtzeitig technische und juristische Barrieren aufgestellt werden. Sonst ist auch bei uns das Feld für den orwellschen „großen Bruder“ bereitet.

English Version

A Song as a Reflection of a Grotesque Arbitrary Rule

Lyapis Trubyetskoi: Graj!

In their song Graj! (Play!), the Belarusian band Lyapis Trubyetskoi creates a surreal reflection of the arbitrary rule in their homeland. As an antidote, they plead for holding on to the dream of overcoming the dictatorship, at least in the way of a play of thoughts.

Play!

Somewhere by a river
where there is no ford,
grey bulls dance a round dance.
In the night they mould chains of gold,
while the call of the raven mingles
with the howl of the wolf,
a brother in spirit.

A fire burns beside them,
blazing high up to the sky.
They celebrate a feast
with bread and wine,
old gypsy women sing their songs for them.
They beat the rhythm with their hooves,
while lightning flickers in the sky.

These bulls have their own truth:
They don’t need the sun,
darkness serves them well.
They don’t need the spring,
they prefer a longer winter,
so that you, my friend,
must sleep as a slave on the stove.

Play! Don’t stop
looking for the dreams of your youth!
Play! Call for the spring,
the glorious blossom magic of spring!
Play! Sing the songs of paradisiacal freedom!
Play! Play! Chase away the bulls,
and happiness will return!

The bulls have got drunk,
they leap across the land
and stamp white towels into the mud
with their dirty hooves.
They leap across the yards,
open the houses,
and whoever doesn’t hide in time
will be found guilty.

Play! …

Ляпис Трубецкой (Lyapis Trubyetskoi): Грай (Graj) from: Vesyoliye Kartinki (Cheerful Pictures, 2011)

Video clip with footage of protests against the regime

Info about the band on russmus.net

A Musician as an Enemy of the State

Sergey (Syarhey) Mikhalok, frontman of the band Lyapis Trubyetskoi, was one of the most prominent critics of the Lukashenko regime in the Belarusian music scene for a long time. In his home country, he was persecuted like an enemy of the state after blaming the dictator for genocide against his own people. As a result, the band, which existed from 1990 to 2014, was only able to give concerts abroad in the end. Mikhalok himself moved to Ukraine in 2014.

The band’s critical stance towards the regime is particularly evident in the album Manifest from 2008, which also contains the opposition anthem Belarus Freedom. However, the song Graj (Play!) from the 2011 album Vesyoliye Kartinki (Cheerful Pictures) is also clearly critical of the regime. It can, of course, be generally related to the arbitrary rule of authoritarian leader. In the given context, though, it is to be understood primarily as criticism of the Lukashenko regime.

When the Surreal Becomes Reality

In the song, a group of „grey bulls“ – the proverbial „big shots“ – are celebrating a sumptuous feast by a river. The place is well shielded against unwanted visitors – „no ford“ leads there.

Ordinary people only appear in the form of entertaining folklore. Their main purpose is to facilitate the eternal celebration of the rulers. That is why the celebrants do not wish for spring, but for the „dark time“ to last as long as possible, so that they can exploit the people undetected for their purposes.

The drastic final image of the song shows where this leads to in the end: when the feast is over, the bulls trample marauding through the streets, defiling everything that gets in their way and invading every house they pass. Anyone who cannot hide in time they declare „guilty“, without giving any reason for this guilt.

Mind Games as the Last Bridge to Freedom

As an antidote to this arbitrary rule, the song recommends in the chorus to refuse any form of conformity to the regime. For apart from the fact that this would be morally questionable, it does not help the oppressed to gain more security: anyone can – as already shown by the Stalinist purges – be targeted by a totalitarian state power, since the authorities can change the norms for acting and thinking in an unpredictable way at any time.

Instead of opportunistically submitting to the regime, the song therefore pleads for continuing to hold on to one’s dreams and playfully trying out the utopias that are being dragged through the mud by the rulers.

In view of the brutal surveillance and intimidation methods that have become part of everyday life in Belarus, however, the playful dream of overcoming the regime can currently only be realised in the form of mind games – and even these are not completely safe from the omnipresent ears and eyes of the police informers.

Bilder / Images: Tomasz Sulima : „Gute Reise, Lukaschenko!“ Foto von Graffiti-Kunst in Warschau (Belarus verabschiedt sich von Lukaschenko) / „Have a good trip, Lukashenko!“ Photo of graffiti art in Warsaw (Belarus bids farewell to Lukashenko); Wikimedia commons; Håkan Henriksson: Sergej Michalok (Mitte) mit der Band Ljapis Trubjetskoj bei einem Auftritt in Kiew, 2008 /Sergey Mikhalok (in the middle) with the band Lyapis Trubyetskoi at a performance in Kiev, 2008 (Wikimedia commons)

Hintergrundmusik Podcast: Light_music: Memories returning (Pixabay)

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