Die lettische Frauen-Band Sus Dungo und ihr Song Rasā Pēdas / The Latvian Women’s Band Sus Dungo and Their Song Rasā Pēdas
Musikalischer Adventskalender 2023: 2. Lettland / Musical Advent Calendar 2023: 2. Latvia
Die Gesangskultur war im Baltikum ein wichtiger Bestandteil der Unabhängigkeitsbewegung. Die lettische Frauen-Band Sus Dungo knüpft an diese Tradition an, entwickelt sie aber zugleich kreativ weiter.
Hörfassung
Spuren im Tau
Auch Wildrosen können verloren gehen.
Verstrick dich ruhig in ihnen,
aber blick dann nicht zurück!
Schau hin – aber pass auf,
dass du dich nicht in ihnen verlierst.
Doch auch wenn du dich bemühst,
dich nicht in der Dunkelheit zu verlieren:
Wie kannst du wissen, was Dunkelheit ist,
wenn es dunkel ist?
Auch im Tau hinterlässt du Spuren, auch im Tau …
Auch Spuren im Tau können unberührt bleiben,
unerkannte Wege bilden, unentdeckte Pfade,
auch Spuren im Tau können unberührt bleiben.
So viele Blüten sind noch im Herzen verborgen,
aber im Dunkeln können sie sich nicht entfalten,
und so verlieren sie sich
mit jedem Schritt, mit jedem Schritt.
Auch wenn du dich bemühst …
Auch im Tau hinterlässt du Spuren …
Auch Spuren im Tau können unberührt bleiben …
Sus Dungo: Rasā Pēdas aus: Rasā Pēdas (2013)
Komplettes Album auf Bandcamp
Interview (von einem türkischen Blogger auf Englisch geführt, 2012)
Die „Singende Revolution“ des Baltikums
1989, auf dem Höhepunkt der Unabhängigkeitsbewegung, bildeten Esten, Letten und Litauer eine 600 Kilometer lange Kette aus zwei Millionen singenden Menschen, die sich quer durch das Baltikum zog (den so genannten „Baltischen Weg“). Es ist daher kein Wunder, dass das Aufbegehren der baltischen Länder gegen die sowjetische Oberhoheit über ihre Territorien als „Singende Revolution“ in die Geschichte eingegangen ist.
Der Begriff ist freilich auch deshalb treffend, weil der gemeinsame Gesang schon zu Zeiten der Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich für Esten, Letten und Litauer ein wichtiges Mittel war, um sich ihrer kulturellen Identität zu vergewissern. In allen drei Ländern war schon früh eine Gesangskultur entstanden, in der man sich über die Pflege des jeweils eigenen Liedguts zugleich der eigenen Sprache und Geschichte versicherte.
Höhepunkte dieser musikalischen Zusammenkünfte waren und sind bis heute die alle fünf Jahre stattfindenden Lieder- und Tanzfestivals, bei denen Chöre aus dem ganzen Land sowie ausländische Gastchöre Kostproben ihrer Kunst geben. Die kulturelle Einzigartigkeit dieser Art von Musikfestivals wurde 2003 auch von der UNESCO gewürdigt, indem sie die Liederfeste in den Rang eines immateriellen Weltkulturerbes erhoben hat.
Gesangskultur in Lettland
Während in Litauen die Liederfeste erst seit 1924 gefeiert werden, reicht deren Tradition in Estland und Lettland noch weiter in die Geschichte zurück. In Estland gibt es sie bereits seit 1869, in Lettland seit 1873. Allerdings existiert hier in den deutschbaltischen Liedertafeln und ihren seit 1836 belegten Zusammenkünften ein noch älterer Vorläufer.
Dieser Vorläufer weist wiederum Parallelen zu den Gesangsvereinen des deutschen Vormärz auf, in denen man sich jene Versammlungs- und Meinungsfreiheit herausnahm, die von den restriktiven Regimen der Restaurationszeit unterdrückt wurde. Dies drückte sich ebenso im Liedgut selbst aus („Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …“) wie in der Form der Zusammenkünfte, in denen man eben jene ungezwungene Assoziierung Gleichgesinnter auslebte, die der Staat ansonsten zu unterbinden versuchte.
In gewisser Weise sind die baltischen Sängerfeste damit Erben oder zumindest ein Nachhall der deutschen Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Der Unterschied zu den deutschen Gesangsvereinen ist dabei freilich, dass es bei den baltischen Völkern stets nicht nur um politische Rechte, sondern auch um sprachlich-kulturelle Selbstbestimmung ging. Dies erklärt wohl auch, warum den Liederfesten eine zentrale Bedeutung für das nationale Selbstverständnis zukommt. In Lettland sind sie seit 2005 sogar gesetzlich verankert.
„Singend wurde ich geboren …“
Überhaupt scheint das gemeinsame Singen in Lettland noch stärker in der Alltagskultur verankert zu sein als in den beiden Nachbarländern Estland und Litauen. „Singend wurde ich geboren, singend wuchs ich auf, und singend lebe ich mein Leben“ – so heißt es in einem lettischen Volkslied. Dem entspricht, dass man in Lettland auf Familienfesten wie selbstverständlich vierstimmig im Chor singt und natürlich unzählige Lieder auswendig kennt.
Ein Grund für diese besondere Bedeutung des musikalischen Gemeinschaftserlebnisses könnte die noch stärkere Abschottung vom Ausland in der Zeit der Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich sein. Während man sich in Estland an den sprachlich verwandten Finnen orientieren konnte und in Litauen wenigstens noch über das benachbarte Polen, mit dem das litauische Volk eine lange gemeinsame Geschichte teilt, ein Fenster nach draußen bestand, war das lettische Volk weitgehend auf sich allein gestellt. Die Konzentration auf die eigenen kulturellen Traditionen fungierte damit hier noch stärker als eine Art Schutzschild gegen die sowjetische Fremdherrschaft.
Kreativer Umgang mit der Tradition
Die Verankerung des Volkslieds in der Alltagskultur führt dabei nicht zu einem rückwärtsgewandten, musealen Verständnis von Musik. Vielmehr scheint gerade der vertraute Umgang mit der musikalischen Tradition Experimentierfreude und kompositorische Innovationen zu begünstigen.
Dadurch, dass die Musik ein selbstverständlicher Teil des Alltagslebens ist, fällt es offenbar leichter, mit ihr zu spielen und neue Wege zu erproben. So experimentiert laut Ojar Spartitis, dem Präsidenten der Lettischen Akademie der Wissenschaften, in Lettland jeder Komponist so lange, „bis er das Gefühl des Astronauten bekommt – den Verlust von Gewicht und [ein] Gefühl des Schwimmens in überirdischer Materie“.
Ein Beispiel für eine solche kreative Bezugnahme auf die Tradition ist die Frauen-Band Sus Dungo. Sievermischt in ihren Liedern traditionelle Elemente der lettischen Musik mit anderen musikalischen Richtungen. Neben Instrumenten, die man eher der klassischen Volksmusik zurechnen würde (wie dem Akkordeon und der Ukulele), kommen auch Instrumente wie die Querflöte und die Harfe zum Einsatz, die eher in der klassischen Musik zu Hause sind. Gleichzeitig sind jedoch auch E-Gitarrenklänge zu hören.
Daraus ergibt sich eine eigenwillige Mischung, die sich bereits im Namen der Band andeutet: „Sus“ ist der Name, den die Bandgründerin, Diāna Čepurnaja, einst ihrer Gitarre gegeben hat und aus dem schließlich ein Spitzname für sie selbst geworden ist. „Dungo“ bedeutet auf Lettisch „summen“. „Sus Dungo“ lässt sich demnach mit „Summende Gitarre“ übersetzen. Der Name deutet also einen Aufbruch in neue, unerwartete Klangwelten an.
Das Wagnis des Lebens
Der etwas kryptische Liedtext lässt sich als Aufforderung verstehen, das Wagnis des Lebens anzunehmen, anstatt sich aus Angst vor Enttäuschung vor dem Leben zu verstecken.
Die Rosensymbolik zu Beginn des Liedes lässt zunächst an das Abenteuer der Liebe denken. Grundsätzlich gilt aber für jeden Schritt hinaus ins Leben: Ob man dabei in die Dunkelheit einer Sackgasse gerät oder – gerade umgekehrt – dadurch aus der Dunkelheit der Sackgasse, in der man sich bisher befunden hat, hinaustritt, kann man erst wissen, wenn man den Schritt ins Unbekannte gewagt hat.
Dafür muss man freilich die Augen aufhalten, sich also bewusst auf das Neue zubewegen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass man sich darin verliert und folglich ebenso unbewusst weiterlebt wie bisher.
Klar ist aber auch: Der Tau, der uns dazu einlädt, eigene Fußspuren in ihm zu hinterlassen, wird irgendwann verschwunden sein. Der Morgen, der zum Aufbruch in ein anderes Leben ermutigt, wird nicht ewig dauern.
Zitate entnommen aus:
Allwardt, Ingrid: Lettland – ein Land, das singt und Stille lebt. So-klingt-europa.de (2013); Beitrag leider nicht mehr im Netz abrufbar.

English Version
Creative Women Power
The Latvian Women’s Band Sus Dungo and Their Song Rasā Pēdas
The culture of singing was an important part of the Latvian independence movement. The women’s band Sus Dungo draws on this tradition, but at the same time modifies it in a creative way.
Traces in the Dew
Wild roses can also get lost.
Go ahead and get entangled in them,
but then don’t look back!
Look at them – but make sure
that you don’t get lost in them.
But even if you try hard
not to lose yourself in the darkness:
How can you know what darkness is
when it is dark?
Even in the dew you leave traces, even in the dew …
Even traces in the dew can remain untouched
and form uncharted paths, undiscovered trails,
even traces in the dew can remain untouched.
So many blossoms are still hidden in the heart,
but in the darkness they cannot unfold,
and so they get lost
with every step, with every step.
Even if you try hard …
Even in the dew you leave traces …
Even traces in the dew can remain untouched …
Sus Dungo: Rasā Pēdas aus: Rasā Pēdas (2013)
Full album on Bandcamp
Interview (conducted by a Turkish blogger in English, 2012)
The „Singing Revolution“ of the Baltic States
In 1989, at the peak of the independence movement, Estonians, Latvians and Lithuanians formed a 600-kilometre-long chain of two million singing people that stretched across the Baltic States (the so-called „Baltic Way“). It is therefore no wonder that the rebellion of the Baltic countries against Soviet supremacy over their territories has been labelled the „Singing Revolution“.
The term is also fitting because singing together was an important means for Estonians, Latvians and Lithuanians to affirm their cultural identity even when they belonged to the Soviet sphere of power. In all three countries, a culture of singing had developed early on, in which the cultivation of each country’s own song tradition reassured people of their language and history.
The highlights of these musical gatherings were and still are the song and dance festivals that take place every five years, where choirs from all over the country as well as foreign guest choirs present samples of their art. The cultural uniqueness of this type of music festival was also recognised by UNESCO in 2003 when it awarded the song festivals the status of intangible world cultural heritage.
Song culture in Latvia
While in Lithuania the song festivals have only been celebrated since 1924, their tradition in Estonia and Latvia goes back even further into history. In Estonia they have existed since 1869, in Latvia since 1873. However, there is an even older predecessor here in the German-Baltic „Liedertafeln“ (singing meetings), which have been documented since 1836.
This forerunner shows parallels to the choral societies of the German „Vormärz“ (Pre-March: the time before the 1848 Revolution), in which people secretly exercised the freedom of assembly and expression that was suppressed by the restrictive regimes of the Restoration period. This was expressed in the songs themselves (like in the famous song „Die Gedanken sind frei“: „Thoughts are free“) as well as in the form of the meetings, in which the informal association of like-minded people was practised.
In a certain sense, the Baltic song festivals are therefore heirs, or at least echoes, of the German freedom movement of the 19th century. The difference to the German choral societies, however, is that the Baltic peoples were not only concerned with political rights, but also with linguistic and cultural self-determination. This probably also explains why the song festivals are of central importance for the national identity. In Latvia, they have even been enshrined in law since 2005.
„I was born singing …“
In general, singing together seems to be even more firmly anchored in everyday culture in Latvia than in the two neighbouring countries Estonia and Lithuania. Thus, a Latvian folk song says: „Singing I was born, singing I grew up, and singing I live my life“. This corresponds to the fact that people in Latvia sing in four-part mixed choir at family celebrations as a matter of course and know countless songs by heart.
One reason for this special significance of the common musical experience could be the even greater isolation from the outside world during the time when the country belonged to the Soviet sphere of power. While in Estonia the linguistically related Finns were a source of orientation and in Lithuania there was at least a window to the outside world via neighbouring Poland, with which the Lithuanian people share a long common history, the Latvians were largely left to their own devices. Concentration on their own cultural traditions thus functioned even more strongly here as a kind of protective shield against Soviet heteronomy.
A Creative Approach to Tradition
However, the fact that folk song is embedded in everyday culture does not necessarily have to lead to a backward-looking, museum-like understanding of music. In Latvia, rather the opposite is the case. The familiarity with musical tradition seems to encourage experimentation and compositional innovation.
The fact that music is a natural part of everyday life apparently makes it easier to play with it and try out new ways. For example, according to Ojar Spartitis, the president of the Latvian Academy of Sciences, composers in Latvia experiment „until they get the same feeling as an astronaut – the loss of weight and the feeling of swimming in supernatural matter“.
An example of such a creative approach to tradition is the women’s band Sus Dungo. In their songs, they mix traditional elements of Latvian music with other musical styles. In addition to instruments that one would rather attribute to classical folk music (such as the accordion and the ukulele), instruments that are more at home in classical music, such as the flute and the harp, are used. At the same time, however, electric guitar sounds are also part of the musical „meal“.
This results in an idiosyncratic mixture, which is already hinted at in the band’s name: „Sus“ is the name that the band’s founder, Diāna Čepurnaja, once gave her guitar and which eventually became a nickname for herself. „Dungo“ means „humming“ in Latvian. „Sus Dungo“ can therefore be translated as „Humming Guitar“. The name thus suggests a departure into new, unexpected worlds of sound.
The Venture of Life
The somewhat cryptic lyrics of the song can be understood as an invitation to engage in the venture of life instead of hiding from life for fear of disappointment.
The introductory rose symobolism first makes us think of the adventure of love. Basically, however, the same applies to every step out into life: You can only know whether you will end up in the darkness of a dead-end street or whether – just the other way round – you will step out of the darkness of the dead-end street in which you have been stuck until now when you have dared to take the step into the unknown.
In doing so, of course, you have to keep your eyes open, i.e. consciously move into the new sphere. Otherwise, there is a danger of losing yourself in it and consequently continuing to live just as unconsciously as before.
But it is also clear that the dew which invites us to leave our own footprints in it will disappear at some point. The morning that encourages us to set out into another life will not last forever.
Quotations translated from:
Allwardt, Ingrid: Lettland – ein Land, das singt und Stille lebt. So-klingt-europa.de (2013). (Unfortunately, the article is no longer available on the web.)
Bilder /Images: Ieva Ābele (Saeima): Mädchen mit Blumenkranz am lettischen Unabhängigkeitstag; 4. Mai 2019 / Girl with flower wreath on Latvian Independence Day; May 4, 2019 (Wikimedia commons); Tobit Bilderwelten: Sängerin der Band Sus Dungo / Singer of the band Sus Dungo (Wikimedia commons, 2018)