Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming
Nachdem die Mordserie aufgeklärt zu sein scheint, stöbert Achmet noch ein wenig in den Dateien auf dem Computer von Dr. France herum. Dabei macht er eine Entdeckung, die das Geschehen in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.
English Version
Hörversion:
Nachdem ich den Brief der Forschungsstiftung gelesen hatte, war der Fall für mich endgültig abgeschlossen: Die Angst, von seinen Finanzquellen abgeschnitten zu werden, hatte Dr. France zum Äußersten getrieben. Gesa, ich und Gina waren einem fehlgeleiteten Forschungsdrang zum Opfer gefallen.
Eigentlich hätte ich nun froh und erleichtert sein müssen. Ich fühlte aber eher eine Leere wie nach einem Marathonlauf durch die Wüste in mir aufsteigen. So stöberte ich, um mich abzulenken, noch ein wenig in den Dateien auf dem Computer von Dr. France herum.
Dabei entdeckte ich einen Ordner mit der Überschrift „Briefe“, in dem Dr. France die Entwürfe der von ihm verschickten Mails abgelegt hatte. Ob er wohl auf die Ankündigung, ihm die Gelder zu streichen, reagiert hatte? Und welche Argumente mochte er für die Fortsetzung der Förderung ins Feld geführt haben?
Der Ordner war sehr übersichtlich gegliedert. Jeder Empfängergruppe war eine eigene Datei zugewiesen, so dass man nicht endlos durch die Entwürfe scrollen musste, wenn man etwas Bestimmtes suchte. Während ich jedoch nach einer Datei mit Begleitschreiben für Finanzierungsanträge fahndete, fiel mein Blick plötzlich auf eine „HumaneVisions“ betitelte Datei. Bedeutete dies etwa, dass Dr. France mit seinen schärfsten Kritikern in Kontakt gestanden hatte?
Neugierig geworden, klickte ich die Datei an. Darin fand ich den folgenden Mail-Entwurf:
Hochgeschätzte Feinde!
Schon seit einigen Wochen bin ich mit meinen Forschungen die Zielscheibe einer von Ihnen initiierten Kampagne.
Wenn ich Ihre bildgewaltigen Andeutungen richtig verstehe, werfen Sie mir vor, die Menschen in meinem Sinne manipulieren zu wollen, sie ihrer Einzigartigkeit zu berauben, ihnen die Gier nach gesellschaftlichem Erfolg einzuimpfen und so einen gnadenlosen Kampf aller gegen alle zu schüren.
Ich gestehe Ihnen zwar zu, dass Ihre Aktionen von einem gewissen Einfallsreichtum zeugen. Mit deren Inhalt bin ich allerdings, wie Sie sich sicher denken können, ganz und gar nicht einverstanden. Ich erlaube mir deshalb, Ihre Infragestellung meiner Arbeit mit ein paar Gegenfragen zu konfrontieren:
Leben wir momentan etwa in einer Gesellschaft, in der es keinen Konkurrenzdruck gibt? Oder anders ausgedrückt: Ist es überhaupt möglich, diesen noch weiter zu steigern? Ist die Einzigartigkeit des Menschen, seine ganz besondere, unvergleichliche Individualität, bei uns ein Wert, der nicht nur in Feiertagsreden beschworen, sondern auch in der Praxis gelebt wird? Leiden wir nicht eher unter einem verstärkten Anpassungs-, ja Uniformierungsdruck, der das Ausleben individueller Normabweichungen erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht?
Ich gehe davon aus, dass Sie die kritische Sicht unserer Gesellschaft, die diese Fragen implizieren, teilen. Wenn ich damit richtig liege, muss ich Ihnen aber die betrübliche Mitteilung machen, dass unsere Überzeugungen gar nicht so weit auseinanderliegen, wie Sie mit Ihren Aktionen unterstellen. Denn mir geht es mit meiner Forschung ja gerade darum, die Einzigartigkeit des Menschen zu betonen und zu stärken. Ich möchte es jedem Einzelnen ermöglichen, wieder ganz er selbst sein zu können, anstatt sich blind in das Normenkorsett der Gesellschaft zwängen zu müssen.
Auf diese Weise kann mein Projekt, so hoffe ich, auch einen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten. Ein Mensch, der ganz er selbst ist, der seine Einzigartigkeit auslebt und einen Weg einschlägt, der nur ihm allein bestimmt ist, wird es nämlich, eben weil er als Einziger auf diesem Weg geht, auch nicht nötig haben, andere „aus dem Weg zu räumen“. Der derzeitige Kampf aller gegen alle müsste sich daher als Ergebnis meiner Forschungen eher abschwächen, anstatt weiter angeheizt zu werden.
Natürlich muss ich einräumen, dass dies alles vorerst nur Utopien sind. Ich bin eben ein Forscher, ein Suchender und nicht – wie Sie mir schmeichelhafterweise in einer Ihrer Aktionen unterstellen – der liebe Gott, der nur mit den Fingern schnippen muss, um die Welt zu verbessern. Ich nehme allerdings für mich in Anspruch, eben dies anzustreben, die ohnehin schon unvollkommene Welt also keineswegs weiter beschädigen zu wollen.
Sollten Sie sich dazu durchringen können, mir dies versuchsweise zuzugestehen, würde ich Ihnen folgendes Angebot unterbreiten: Kommen sie doch einfach mal zu Besuch in mein Büro! Lassen Sie uns doch einmal, ganz unverbindlich, über Ihre Vorbehalte gegenüber meiner Arbeit reden! Vielleicht ergeben sich dadurch ja auch für mich neue Aspekte, die ich dann gerne in mein Forschungsdesign einarbeiten würde.
Ich wäre sogar bereit, Ihnen noch einen Schritt weiter entgegenzukommen. Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen Zugang zu dem Kreis der Versuchspersonen verschaffen, die an meinem Experiment zur cerebralen Optimierung teilnehmen. Aus Datenschutzgründen müssten wir uns dafür allerdings auf eine einzige Person aus Ihrer Mitte einigen, der ich dann unter dem Siegel der Verschwiegenheit die entsprechenden Daten offenlegen würde.
Diese Person könnte sich anschließend mit eigenen Augen davon überzeugen, dass die Versuchsteilnehmer keinerlei Gewalt ausgesetzt sind, sondern sich frei entfalten können und dabei gleichzeitig den größtmöglichen Beitrag zur Steigerung des Gemeinwohls leisten.
Gespannt harrt Ihrer Antwort
Ihr Lieblingsfeind
Pierre France
Direkt unter diesem Schreiben fand ich noch den Entwurf einer weiteren Mail, die offenbar als Reaktion auf ein Antwortschreiben von HumaneVisions konzipiert war. Darin bekundete Dr. France seine Freude über das Zustandekommen eines Treffens und unterbreitete den Eingeladenen eine Reihe von Terminvorschlägen. Ausdrücklich bekräftigte er auch seine Bereitschaft, der Gruppe einen vertieften Einblick in seine Forschung zu ermöglichen, u.a. durch die Wahl einer Vertrauensperson, der er die Identität seiner Versuchsteilnehmer offenbaren wollte.
Die beiden Mail-Entwürfe ließen die ganze Angelegenheit noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Denn wenn es wirklich zu dem Treffen von Dr. France mit einer Abordnung von HumaneVisions gekommen war, bedeutete das ja, dass zumindest eine weitere Person die Liste der Versuchspersonen kannte. Theoretisch war es daher denkbar, dass doch jemand anderes die Morde begangen hatte. Aber warum? Welches Interesse hätte dieser Jemand an dem Tod der Versuchsteilnehmer haben sollen?
Missmutig klickte ich mich weiter durch die auf dem Rechner gespeicherten Ordner und Dateien. Um die letzten Unklarheiten zu beseitigen, war ich darauf angewiesen, den Namen der Vertrauensperson von HumaneVisions, die Einsicht in die Liste der Versuchsteilnehmer genommen hatte, herauszufinden.
Angesichts der akribischen Dokumentierwut von Dr. France war ich davon überzeugt, dass auch hierzu irgendwo eine Datei existieren musste. Aber wo sollte ich danach suchen? Es gab zwar auf dem Computer außer der Datei mit den Briefentwürfen auch einen „HumaneVisions“ betitelten Ordner. Dieser enthielt jedoch nur allgemeine Informationen über die Organisation und ihre Aktionen.
Draußen tagte es bereits. Bald würde ich wieder durch einen unsichtbaren Vorhang von der Welt getrennt sein – den „Untotenschutzwall“, wie Gesa ihn genannt hatte. Ich hatte das Gefühl, als würde sie mich noch immer begleiten, als wäre sie die ganze Zeit über nicht von meiner Seite gewichen. Wirklich war es ja auch, selbst nach irdischen Maßstäben, kaum einen Wimpernschlag her, dass wir gemeinsam die Dateienschätze von Dr. France durchwühlt hatten. Und doch waren wir nun für immer voneinander getrennt.
Hektisch klickte ich mich weiter durch das Labyrinth der Dokumentensammlungen. Um nichts unversucht zu lassen, öffnete ich schließlich auch eine Datei mit dem unverdächtigen Titel „S.I.“.
Unwillkürlich weiteten sich meine Augen, als der Text sich vor mir aufbaute. Vor mir befand sich nicht nur ein umfangreiches Dossier über die Person mit den Initialen „S.I.“ – bei der es sich um eben die Person handelte, der von Dr. France Einblick in die Liste der Versuchsteilnehmer gewährt worden war. Darüber hinaus enthüllte die Datei auch die Strategie, die der gerissene Forscher mit seinem Entgegenkommen gegenüber HumaneVisions verfolgt hatte.
Die Vorgehensweise war so naheliegend, dass ich mich wunderte, warum ich nicht von allein darauf gekommen war. So empfand ich, als ich die in der Datei versammelten Schriftstücke überflog, auch eher Erleichterung über die Lösung des Problems als Abscheu vor der Perfidie des offenbarten Plans. Was sich jedoch wie ein Stromstoß in meine abgestorbenen Gefühlsadern fraß, war der Name der Vertrauensperson.
Mechanisch klickte ich auf „Weiterleiten“, um der Polizei – der Vollständigkeit halber – auch diese zusätzlichen Informationen zukommen zu lassen. Dann tat ich, was nun nicht mehr zu vermeiden war: Ich stattete der mir nur allzu vertrauten Vertrauensperson einen Besuch ab.

English Version
A Momentous Discovery
After the series of murders seems to have been solved, Ahmet still rummages around a little in the files on Dr. France’s computer. In doing so, he makes a discovery that sheds new light on the events.
After reading the letter from the research foundation, the case was finally closed for me: The fear of being cut off from his funding sources had driven Dr. France to extremes. Gesa, I and Gina had fallen victim to a misguided research zeal.
Actually, I should have been happy and relieved now. But I rather felt an emptiness rising in me like after a marathon run through the desert. So, to distract myself, I rummaged around a bit in the files on Dr. France’s computer.
By chance, I discovered a folder titled „Letters“, in which Dr. France had filed the drafts of the emails he had sent. I wondered if he had reacted to the announcement that his funding would be cut off. And what arguments might he have put forward for the continuation of the support?
The folder was very clearly structured. Each group of recipients was assigned its own file, so there was no need to scroll endlessly through the drafts when searching for something. However, while I was looking for a file with cover letters for funding applications, my eyes suddenly fell on a file titled „HumaneVisions“. Did this mean that Dr. France had been in contact with his harshest critics?
Curious, I clicked on the file. In it I found the following email draft:
Esteemed enemies!
For some weeks now, I have been the target of a campaign initiated by you against my research.
If I understand your vivid insinuations correctly, you accuse me of wanting to manipulate people in my favour, to rob them of their uniqueness, to inculcate in them the greed for social success and thus to foment a merciless struggle of all against all.
Admittedly, your actions display a certain inventiveness. However, as you can imagine, I do not agree with their content at all. I therefore allow myself to confront your questioning of my work with a few counter-questions:
Do we currently live in a society in which there is no competitive pressure? Or, to put it another way: Is it even possible to increase this pressure? Is the uniqueness of human beings, their very special, incomparable individuality, a value that is not only invoked in festive speeches but also lived in practice? Do we not rather suffer from an increased pressure to conform that makes it more difficult, if not impossible, to live out individual deviations from the rules?
I assume that you share the critical view of our society that these questions imply. If I am correct, however, I must sadly inform you that our convictions are not as far apart as you insinuate with your actions. In fact, my research is precisely about emphasising and strengthening the uniqueness of every human being. I want to make it possible for all individuals to be fully themselves again instead of having to blindly squeeze themselves into society’s corset of norms.
In this way, I hope, my project can also contribute to peace in the world. After all, people who are completely themselves, who live out their uniqueness and follow a path that is meant for them alone, will not need to „get others out of the way“, precisely because they are the only ones walking this path. The current struggle of all against all should therefore, as a result of my research, weaken rather than be further fuelled.
Of course, I have to admit that these are all utopian visions for the time being. I am a researcher, a seeker and not – as you flatteringly imply in one of your actions – the almighty God who only has to snap his fingers to improve the world. I do, however, claim to strive for just that, instead of wanting to further damage the already imperfect world.
If you could bring yourself to concede this to me on a trial basis, I would make you the following offer: Let’s just talk about your concerns regarding my work, without any obligation! Why don’t you come to see me in my office? Perhaps your arguments will open up new aspects for me, which I would then be happy to include in my research design.
I would even be prepared to make you a further concession. If you would like, I could grant you access to the group of test subjects participating in my experiment on cerebral optimisation. For reasons of data protection, however, we would have to agree on a single person from among you, to whom I would then disclose the relevant data under the pledge of secrecy.
This person could thus verify first-hand that the participants in the experiment are not exposed to any kind of coercion, but can develop freely their personalities and at the same time make the greatest possible contribution to the common good.
Eagerly awaiting your answer
Your favourite enemy
Pierre France
Directly below this letter, I found a draft of another email, which was apparently conceived as a reaction to a reply from HumaneVisions. In it, Dr. France expressed his pleasure that a meeting had been arranged and made a number of date proposals. He also explicitly confirmed his willingness to provide the group with a deeper insight into his research by choosing a person of trust to whom he would reveal the identity of his test subjects.
The two email drafts cast the whole affair in a different light. If Dr. France had really met with a delegation from HumaneVisions, this meant that at least one other person had seen the list of test subjects. Theoretically, it was therefore conceivable that someone else had committed the murders. But why? What interest could this person have had in the deaths of the trial participants?
Disgruntled, I continued to click through the folders and files stored on the computer. To clear up the last ambiguities, I had to find out the name of the person of trust from HumaneVisions who had seen the list of the test persons.
In view of Dr. France’s thirst for documentation, I was convinced that a file also had to exist somewhere for the correspondence with HumaneVisions. But where should I look for it? On the computer, apart from the file with the email drafts, there was indeed a folder titled „HumaneVisions“. But to my disappointment, it contained only general information about the organisation and its actions.
Outside it was already dawning. Soon I would be separated from the world again by an invisible curtain – the „undead wall“, as Gesa had called it. I had the feeling that she was still with me, as if she hadn’t left me all this time. In fact, even by earthly standards, it had hardly been a blink of an eye since we had rummaged through Dr. France’s file treasures together. And yet we were now separated from each other forever.
Hectically, I clicked my way through the labyrinth of document collections. To leave no stone unturned, I finally opened a file with the unsuspicious title „S.I.“.
Involuntarily, my eyes widened as the text built up before me. The file not only contained detailed information about the person with the initials „S.I.“ – the very person who had been given access to the trial participants. It also revealed the intentions that the cunning researcher had pursued with his concession to HumaneVisions.
The strategy was so obvious that I wondered why I hadn’t thought of it on my own. Therefore, as I skimmed the documents gathered in the file, I felt relief at the solution to the problem rather than disgust at the perfidy of the plan revealed. What ate into my dead emotional veins like a jolt of electricity, though, was the name of the person of trust.
Mechanically, I clicked on „Forward“ to send the police – for the sake of completeness – this additional information as well. Then I did what was now unavoidable: I went to see the person of trust – who was all too familiar to me.
Buch / Book

Gebundene Ausgabe 2015

Bilder / Images: Gerd Altmann: Nervenzellen / Nerve cells (Pixabay); Gerd Altmann: Zellteilung / Cell division (Pixabay)
