Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming
Im Labor von Dr. France suchen Achmet und Gesa nach Hinweisen auf das Experiment, an dem sie teilgenommen haben. Dabei stoßen sie auf eine beunruhigende Liste.
Hörfassung
Sobald Dr. France den Raum verlassen hatte, nickte Gesa mir auffordernd zu: „Komm – wir knacken den Tresor!“
Sie versuchte den Computer wieder hochzufahren – aber vergeblich. „Was ist denn jetzt los?“ wunderte ich mich. „Schaltet sich hier etwa der Strom ab, wenn keiner mehr im Haus ist?“
„Ach was – das ist nur der Untotenschutzwall“, erklärte Gesa lapidar.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, was sie damit meinte: Solange Dr. France nicht außer Reichweite war, waren wir wie von einer unsichtbaren Mauer umgeben. Es war derselbe Mechanismus wie der, den ich schon bei meiner Begegnung mit Salvatore beobachtet hatte.
„Jetzt aber!“ triumphierte Gesa, als der Computer endlich seinen Widerstand gegen ihre Streicheleinheiten aufgab.
Das Passwort stellte glücklicherweise kein Hindernis für uns dar, da wir Dr. France ja bei der Eingabe über die Schulter gesehen hatten. Als weitaus größere Hürde erwies sich der sezierend-sektiererische Wissenschaftlerjargon, der uns die Orientierung erschwerte.
Wir begannen unsere Durchforstung der Dateienschätze mit dem Ordner „Postmortale Studien“, den wir Dr. France hatten öffnen sehen. Er enthielt jedoch nur die Resultate der von uns beobachteten Untersuchungen und brachte uns daher nicht entscheidend weiter. So hasteten unsere Blicke eine Zeit lang ziellos durch das Dickicht der Dateien.
Schließlich zeigte Gesa mit dem Finger auf einen Ordner: „Schau mal – hier: ‚Cerebrale Optimierung‘ – das klingt doch ganz nach unserem Experiment. Ich denke, das sollten wir uns mal näher anschauen.“
Ich nickte, während Gesa bereits den Ordner anklickte. Und richtig – wir hatten ins Schwarze getroffen! Dies war der Ort, an dem Dr. France die umfangreichen Dateien zu seinen Forschungsobjekten – also auch zu uns – abgelegt hatte.
Natürlich konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, zunächst einmal unsere eigenen Namen anzuklicken. Allerdings war die Lektüre eine einzige Enttäuschung. Die Dateien lieferten zwar den Beweis dafür, dass Dr. France durch den uns implantierten Chip jederzeit über die biochemischen Veränderungen, die sein Wundermittel in uns ausgelöst hatte, im Bilde gewesen war. Dies war aber ebenso wenig eine Überraschung wie die – ebenfalls haarklein dokumentierte – Tatsache, dass mit Hilfe des Chips gelegentlich auch verhaltensändernde Impulse in unsere Synapsen eingespeist worden waren.
Wir konnten dadurch zwar manche scheinbar spontane Entscheidung rückblickend besser verstehen. Die zentrale Frage – warum und von wem unsere Existenz so plötzlich ausgelöscht worden war – beantwortete dies jedoch nicht.
Bei vielen Dateien erschlossen die Inhalte sich uns nur indirekt oder nach mehrmaligem Lesen der in ihnen aufgelisteten Forschungsergebnisse. Der routinierte Furor eines Analysejargons, der die Wirklichkeit zerteilte wie ein Adler seine Beute, verstellte auch hier wieder den Blick auf die uns interessierenden Zusammenhänge. So verloren wir unnötig viel Zeit beim Entziffern der Dateien, die für uns am Ende kaum hilfreicher waren als Fotodateien eines Urlaubs von Menschen, die man nicht kennt.
Erst als draußen bereits der Morgen um die grauen Mülltonnen und über die verwaisten Hinterhöfe strich, machten wir die entscheidende Entdeckung. „Liste der Teilnehmer am Projekt ‚C.O.'“, las ich halblaut.
„‚C.O.‘ wie ‚Cerebrale Optimierung‘, meinst du?“ führte Gesa meinen Gedanken zu Ende, während sie den Cursor zu dem Ordner lenkte. „Warte – das haben wir gleich …“
Wie sich herausstellte, enthielt die Dokumentensammlung die Dateien, die vor Beginn des Experiments zu jedem Teilnehmer angelegt worden waren: Angaben zu Familienstand, Verwandtschaftsverhältnissen, Ausbildung, beruflichem Werdegang, besonderen Persönlichkeitsmerkmalen und privaten Vorlieben, soweit bekannt.
Am wichtigsten für uns war jedoch die Liste der insgesamt zehn an dem Projekt beteiligten Versuchspersonen, für die eine eigene Datei angelegt worden war. Leider verblasste sie genau in dem Moment, in dem wir sie öffneten.
„Dieses blöde Stromsparprogramm!“ fluchte ich. „Fahr doch mal mit dem Cursor über den Bildschirm, damit das Bild wieder klarer wird!“
Gesa verzog das Gesicht. „Ich kann’s ja mal versuchen, aber ich fürchte …“
Tatsächlich konnten wir tun, was wir wollten – die Schrift auf dem Bildschirm wurde immer schwächer. Kurz darauf begriffen wir, was der Grund dafür war: Die Putzkolonne war auf dem Weg in unseren Stock. Die Spuren unserer unmöglichen Existenz mussten daher wieder ins Dunkel des Nichtseins zurücktreten.
Eines konnten wir jedoch noch erkennen, bevor die Schrift sich endgültig zersetzte. Hinter den ersten vier der insgesamt zehn Namen auf der Liste war jeweils ein Kreuz mit einem Sterbedatum eingetragen – und alle waren im Laufe der letzten drei Monate gestorben!
Gesa sah mich fragend an: „Denkst du auch, was ich denke?“
Ich nickte: „Da hat wohl jemand seinem Glück mit etwas Gift auf die Sprünge geholfen.“
Offenbar hatte Dr. France über die lebenden Versuchsteilnehmer schon genug Daten gesammelt. Um sein Projekt abzuschließen, brauchte er nun noch Analysematerial, das ihm nur die toten Körper der Testpersonen liefern konnten. Also hatte er wohl den Übergang vom lebenden zum toten Probanden ein wenig beschleunigt.
„Der scheint die Liste ja geradezu mit militärischer Disziplin abzuarbeiten“, bemerkte Gesa.
„Stimmt“, pflichtete ich ihr bei. „Getötet wird streng der Reihe nach.“
Gesa senkte die Stimme: „Dann würde das ja bedeuten, dass …“
„… dass Nr. 5 das nächste Opfer sein wird“, ergänzte ich. „Nur gut, dass wir die Liste entdeckt haben – so können wir wenigstens verhindern, dass dieser Giftmischer noch weitere Morde begeht.“
„Theoretisch schon“, seufzte Gesa. „Wenn nur diese gläserne Mauer uns nicht von der Welt trennen würde!“
Sie hatte Recht. Daran konnte ich mich einfach nicht gewöhnen! Dennoch konnten wir natürlich den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen. Glücklicherweise hatte Gesa sich die Adresse des potenziell nächsten Opfers einprägen können, bevor der Computer sich von uns verabschiedete. So machten wir uns unverzüglich auf den Weg dorthin. Vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit, die betreffende Person zu warnen.

Gebundene Ausgabe 2015

English Version
The Death List

Left alone in Dr. France’s laboratory, Ahmet and Gesa search for clues about the experiment they took part in. In a computer file they come across a disturbing list.
As soon as Dr. France had left the room, Gesa nodded at me invitingly: „Come on – let’s crack the safe!“
She tried to boot up the computer again – but to no avail. „What’s the matter?“ I wondered. „Is the power turned off in here when there’s no one left in the house?“
Gesa sighed. „I fear it’s rather due to the undead barrier.“
It took me a moment to realise what she meant: As long as Dr. France wasn’t out of reach, we were surrounded as if by an invisible wall. It was the same mechanism that I had already observed in my encounter with Salvatore.
It didn’t take long, however, before the computer gave up its resistance to Gesa’s caresses. „Now we can finally get started,“ she murmured.
Fortunately, the password was not an obstacle for us, as we had looked over Dr. France’s shoulder when he had entered it. A much bigger hurdle proved to be the dissecting scientist jargon, which made it difficult for us to find our way around.
We began our exploration of the computer treasures with the folder entitled „Postmortem Studies“ that we had seen Dr. France open. However, it only contained the results of the examinations we had observed and therefore didn’t bring us any new insights. So our eyes hurried aimlessly through the thicket of files for a while.
Finally Gesa pointed her finger at a folder: „Look – here: ‚Cerebral optimisation‘ – that sounds like our experiment. I think we should take a closer look at that.“
I nodded while Gesa was already clicking on the folder. And indeed, we had hit the bull’s eye! This was the place where Dr. France had stored the extensive files on his research subjects – including us.
Of course, we couldn’t resist the temptation to click on our own names first. Reading the files, though, was a complete disappointment. True, the files provided proof that Dr. France, thanks to the chip implanted in us, had been constantly aware of the biochemical changes that his wonder drug had triggered in us. However, this was no more a surprise than the fact – also documented in great detail – that with the help of the chip, behaviour-altering impulses had occasionally been triggered in our synapses.
This did help us to understand some seemingly spontaneous decisions in retrospect. But it did not answer the key question – why and by whom our existence had been so suddenly wiped out.
In many files, we grasped the contents only indirectly or after reading the research results listed in them several times. The ritualised fervour of an analytical jargon that dissected reality like an eagle dismembering its prey obscured our view of the contexts we were interested in. So we lost a lot of time deciphering the files, which in the end were hardly more helpful to us than holiday photos of people you don’t know.
It was only when morning was already brushing around the grey bins and over the deserted backyards outside that we made the decisive discovery. „List of participants in the ‚C.O.‘ project,“ I read half aloud.
„‚C.O.‘ as for ‚Cerebral Optimisation‘, you mean?“ finished Gesa my thought as she steered the cursor to the folder. „That really sounds promising …“
As it turned out, the folder contained the files that had been created for each participant before the experiment began: information on marital status, family relations, education, professional career, special personality traits and personal predilections.
Most important for us, however, was the list of the ten test subjects involved in the project, for whom a separate file had been created. Unfortunately, it was fading just as we opened it.
„That stupid power-saving programme!“ I cursed. „Maybe the picture gets clearer if you move the cursor over the screen.“
Gesa frowned. „I can try, but I’m afraid …“
Indeed, no matter what we did, the writing on the screen became fainter and fainter. Shortly afterwards we realised what the reason was: the cleaning crew was on its way to our floor. The traces of our impossible existence therefore had to recede back into the darkness of nothingness.
But there was one crucial thing we could still make out before the writing finally dissolved: Behind each of the first four names on the list – which comprised a total of ten people – was a cross with a date of death. And all of them had died in the course of the last three months!
Gesa looked at me questioningly. „Are you thinking what I’m thinking?“
I nodded: „Someone must have helped his luck with some poison.“
Apparently, Dr. France had already collected enough data on the living test participants. In order to complete his project, he now needed analytical material that only the dead bodies of the test subjects could provide him. So he had probably accelerated the transition from living to dead subjects a little.
„It seems our dear Dr. France is working through the list with almost military discipline,“ Gesa remarked.
„You are right,“ I agreed with her. „Killing is done strictly in order.“
Gesa lowered her voice: „That would mean …“
„… that No. 5 will be the next victim,“ I finished her sentence. „What luck that we discovered the list – so we can at least prevent this poisoner from committing any more murders.“
„In theory, yes,“ Gesa sighed. „If only this glass wall didn’t separate us from the world!“
She was right. I just couldn’t get used to that! Nevertheless, it was of course out of the question to simply let things take their course. Fortunately, Gesa had managed to memorise the address of the potential next victim before the computer said goodbye to us. So we immediately set off for this place. Maybe there was a way to warn the person in question after all.
Bilder / Images: Gerd Altmann: Frau in Angst / Woman in Fear (Pixabay); Enrique Meseguer (Darksouls1): Makabres Porträt / Macabre Portrait (Pixabay)
