Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming
Hörfassung:
Durch die Teilnahme am Experiment von Dr. France ist Achmet in ein neues Leben eingetreten. Für Gesa bedeutete das, dass er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden war.
Das unerwartete Wiedersehen mit Gesa – oder zumindest mit dem Schatten der Gestalt, die sie einst gewesen war – hatte mir ein Guckloch in dem Vorhang geöffnet, der mich von meinem früheren Leben trennte. Seltsamerweise gab es für meinen Blick in die Vergangenheit aber eine Grenze, die ich nicht überschreiten konnte.
Diese Grenze war die Unterschrift, die ich unter den Vertrag von Dr. France gesetzt hatte. Das Letzte, was ich vor mir sah, war sein zufriedenes Grinsen, sein fast schon wollüstiger Blick auf meine Hand, die zitternd, aber doch entschlossen meinen Namen unter das verhängnisvolle Dokument kritzelte.
Alles Weitere versank in undurchdringlicher Finsternis. Es war, als hätte ich mich durch die Unterschrift von mir selbst abgeschnitten. Ich war nicht nur aus meinem eigenen Leben ausgetreten – auch die Fenster, durch die ich von außen in es hineinzuspähen versuchte, blieben blind.
Hilfesuchend sah ich zu Gesa herüber. Für einen Augenblick fürchtete ich, ihre durchscheinende, den Launen des Mondlichts ausgelieferte Gestalt könnte sich vor meinen Augen verflüchtigen. Aber ihre Stimme überzeugte mich davon, dass ich in ihr den Zipfel einer – wenn auch brüchigen – Realität erhascht hatte.
„Du kannst dich nicht mehr daran erinnern, was nach der Vertragsunterzeichnung mit dir passiert ist – richtig?“ fragte sie mitfühlend.
Ich nickte schwerfällig: „Ja, aber … woher weißt du … warum …?“
Ihr bislang so verschleiert wirkender Blick blitzte auf einmal mit der Kraft eines Katzenauges vor mir auf. „Weil ich dasselbe durchgemacht habe wie du“, fiel sie mir ins Wort.
Ich fragte sie nicht, wie sie das meinte, und sie fühlte offenbar auch nicht den Drang, mir ihre Worte näher zu erläutern. So versanken wir beide für einen kurzen Moment in dem Abgrund unseres verlorenen Lebens.
Dann berichtete Gesa mir mit tonloser Stimme, wie es ihr damals ergangen war: „Nachdem du bei Dr. France den Vertrag unterschrieben hast, bist du einfach verschwunden. Du bist nicht nach Hause gekommen, du hast mich nicht angerufen, dein Handy blieb tot, noch nicht mal die Mailbox ist angesprungen.“
Es war mir, als würde sie die Geschichte eines Fremden erzählen – und in gewisser Weise tat sie das ja auch. „Daran kann ich mich gar nicht erinnern“, versicherte ich ihr. „Wirklich nicht!“
Gesa nickte kaum merklich. „Ich weiß. Heute verstehe ich ja auch, wie das alles geschehen konnte. Damals aber habe ich mir natürlich die größten Sorgen gemacht. Ich war so beunruhigt, dass ich jeden angerufen habe, der auch nur im Entferntesten etwas mit dir zu tun hatte: Bekannte, Freunde, ehemalige Arbeitskollegen, natürlich auch deinen Vater, obwohl ich ja wusste, dass du ihn seit dem Tod deiner Mutter nur noch selten besucht hattest und er deshalb kaum mehr über deinen Verbleib wissen konnte als ich. Niemand hatte auch nur die leiseste Idee, wo du abgeblieben sein könntest, alle fanden dein Verschwinden genauso unverständlich wie ich. Also bin ich gleich am nächsten Tag zur Polizei gegangen und habe eine Vermisstenanzeige aufgegeben.“
Sie sah mich aus leeren Augen an. Vergebens suchte ich nach einem Vorwurf darin. Vergebens suchte ich aber auch in mir nach einem Anflug von Gewissensbissen. Zu weit entfernt war das, was sie erzählte. Zu fremd waren mir die Personen, von denen die Geschichte handelte.
„Volle zwei Monate hat es danach gedauert“, fuhr Gesa fort, „bis eine Spur von dir aufgetaucht ist. Da hattest du schon eine Anstellung bei einem Theater in einer ganz anderen Stadt gefunden, und dort hatte ein Zuschauer dein Foto auf einer Vermisstenanzeige erkannt. Ausgerechnet beim Theater! Wo du doch sonst immer ein leidenschaftlicher Verächter des bürgerlichen Kulturgenusses gewesen warst! Aber in dem Moment war mir das alles ganz egal, ich habe mir gar keine Gedanken darüber gemacht. Ich war einfach nur froh, dass man dich endlich aufgespürt hatte und dass du keinem Verbrechen zum Opfer gefallen warst. Noch am selben Tag habe ich mich in den Zug gesetzt und bin dir nachgefahren.“
Irgendwo raschelte ein Tier unter dem Laub. Gesa blickte kurz in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Mein Blick folgte dem ihren, aber beide gaben wir nur einem Reflex nach, der aus unserem früheren Leben in unsere jetzige Existenz hineinragte. Unser Interesse erstarb, noch ehe es sich entfalten konnte.
Mechanisch gab Gesa sich wieder ihren Erinnerungen hin: „Während der Zugfahrt hatte ich dann zwar genug Zeit, über dein Verhalten nachzudenken. Ich weigerte mich jedoch, darin einen Vertrauensbruch zu sehen. Vielleicht, sagte ich mir, wolltest du mich ja mit einem radikalen Neuanfang überraschen, womöglich hattest du auch durch einen Unfall oder ein anderes traumatisches Ereignis dein Gedächtnis verloren – so etwas soll ja vorkommen.“
Sie sah mich an, als würde sie einen Kommentar von mir erwarten, die vage Andeutung eines Bedauerns über das, was vorgefallen war. Ich öffnete die Lippen, ich wollte etwas sagen – aber die Worte waren wie festgeklebt in meinem Mund.
Als ich stumm blieb, ließ Gesa ihren Blick über das Meer der Grabsteine schweifen, dann erzählte sie weiter. „Abends, kurz vor der Vorstellung, habe ich dich endlich wiedergesehen – du warst gerade dabei, die Straße vor dem Theater zu überqueren. Auf dem Mittelstreifen musstest du kurz anhalten und bist dann geradewegs auf den Künstlereingang zugelaufen, wo ich auf dich gewartet habe. Ich war so voller Freude und Erleichterung, dass ich einfach auf dich zugerannt bin und dir um den Hals fallen wollte, so wie früher, wenn wir uns längere Zeit nicht gesehen hatten.“
Eine Fledermaus huschte an uns vorbei. War es nur Zufall, dass sie nicht durch uns hindurchflog, überlegte ich, oder hatte sie einen geheimen Sinn für unsere Existenz?
Gesa schien das geflügelte Kind der Nacht gar nicht bemerkt zu haben. Sie war weiter ganz vertieft in die Erinnerung an diese seltsame Begegnung, die ihr entglitten war wie ein vom Horizont verschlucktes Schiff.
„Kurz bevor ich dich erreicht hatte“, berichtete sie, „trafen sich unsere Blicke – und da bin ich augenblicklich stehen geblieben. Deine Augen waren so kalt, so gleichgültig, du hast mich völlig interesselos angesehen, als wäre ich irgendeine x-beliebige Fremde für dich. Als ich dich angesprochen habe, hast du schlicht geleugnet, mich zu kennen. Und was das Schlimmste war: Ich hatte noch nicht einmal den Eindruck, du würdest mir etwas vormachen. Offenbar konntest du dich wirklich nicht mehr an mich erinnern. Ich konnte so viel auf dich einreden, wie ich wollte – ich war und blieb eine Fremde für dich.“

Gebundene Ausgabe 2015

English version
Sudden Disappearance

By participating in Dr. France’s experiment, Ahmet entered a new life. For Gesa, this meant that he disappeared without a trace from one day to the next.
The unexpected reunion with Gesa – or at least with the shadow of what she had once been – had opened a peephole in the curtain that separated me from my former life. Strangely enough, however, there was a borderline to my look into the past that I could not cross.
This borderline was my signature on the contract with Dr. France. The last thing I remembered was his satisfied grin, his almost voluptuous glance at my hand, which in a trembling yet determined way scribbled my name under the fateful document.
Everything else sank into impenetrable darkness. It was as if I had cut myself off from myself by signing. Not only had I stepped out of my own life – even the windows through which I tried to glimpse into it from the outside remained blind.
Helplessly, I looked over at Gesa. For a moment I feared that her translucent figure, exposed to the whims of the moonlight, might evaporate before my eyes. But her voice convinced me that in her I had caught a hint, albeit a fragile one, of reality.
„You can’t remember what happened to you after the contract was signed – right?“ she asked sympathetically.
I nodded slowly. „Yes, but … how do you know … why …?“
Her hitherto veiled gaze suddenly flashed before me with the power of a cat’s eye. „Because I have had the same experiences as you,“ she interrupted me.
I didn’t ask her what she meant, and she obviously didn’t feel the urge to elaborate on her words. So we both sank into the abyss of our lost lives for a short while.
Then Gesa told me in a toneless voice what had happened to her back then: „After you had signed the contract with Dr. France, you simply disappeared. You didn’t come home, you didn’t call me, your mobile phone was offline, not even the voicemail answered.“
It felt to me like she was telling a stranger’s story – and in a way, she was. „I don’t remember that at all,“ I assured her, „I really don’t!“
Gesa nodded barely noticeably. „I know. After all, today I can explain to myself how all this could happen. But back then, as you can imagine, I was worried out of my mind. I was so concerned that I called everyone who had anything to do with you: acquaintances, friends, former work colleagues, and of course your father, although I knew that you had visited him only rarely since your mother’s death and that he could therefore hardly know more about your whereabouts than I did. But no one had the slightest idea where you might have gone, everyone found your disappearance as incomprehensible as I did. So the very next day I went to the police and filed a missing person’s report.“
She looked at me out of empty eyes. In vain I searched for an accusation in them. But I also searched in vain for a hint of remorse in me. What Gesa told me was just too far away. The people in the story were like strangers to me.
„It took a full two months,“ Gesa continued, „until a trace of you turned up. By then you had already found a job at a theatre in a faraway town, and there a spectator had recognised your photo on a missing person’s report. Of course it was strange that you ended up at the theatre of all places! After all, you had always been a passionate despiser of bourgeois culture. But at that moment I didn’t care at all, I didn’t even think about it. I was just happy that you had been tracked down and that you hadn’t fallen victim to any crime. That same day I got on the train to finally hold you in my arms again.“
Somewhere an animal rustled under the leaves. Gesa glanced briefly in the direction from which the sound came. My gaze followed hers, but both of us were only giving in to an obsolete reflex of our former lives. Our interest died before it could unfold.
Mechanically, Gesa returned to her memories: „During the train ride, I had enough time to think about your behaviour. But I refused to see it as a breach of trust. Maybe, I said to myself, you wanted to surprise me with a radical new beginning, maybe you had lost your memory due to an accident or some other traumatic event – such things happen, I had heard of similar cases often enough.“
She looked at me as if expecting a comment from me, the vague hint of regret about what had happened. I opened my lips, I wanted to say something – but the words were stuck in my mouth.
As I remained silent, Gesa let her gaze wander over the sea of gravestones, then she continued: „In the evening, shortly before the performance, I finally caught sight of you – you were just about to cross the road in front of the theatre. On the central reservation you had to stop for a moment and then you ran straight towards the artist’s entrance where I was waiting for you. I was so full of joy and relief that I just ran up to you and wanted to fall around your neck, like I used to do whenever we hadn’t seen each other for a long time.“
A bat flitted past us. Was it just coincidence that it didn’t fly through us, I pondered, or did it have a secret sense of our existence?
Gesa didn’t seem to notice the winged child of the night. She was still completely absorbed in the memory of this strange encounter, which had slipped away from her like a ship swallowed by the horizon.
„Shortly before I reached you,“ she reported, „our eyes met – and that’s when I stopped instantly. Your eyes were so cold, so indifferent, you looked at me with no interest at all, as if I were just another stranger to you. When I spoke to you, you simply denied knowing me. And what was worst: I didn’t even have the impression that you were pretending. Apparently you really couldn’t remember me. I could talk to you as much as I wanted – I was and remained a stranger to you.“
Bilder / Images: Dorothe (Darkmoon_Art): Nebliger Wald / Misty Forest (Pixabay); Artie_Navarre: Verwunschener Wald / Haunted Forest (Pixabay; Ausschnitt/detail)
