Die zerstörte Zukunft /The Destroyed Future

Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming

Durch die Begegnung mit Gesa öffnet sich für Achmet die Tür in eine ferne Vergangenheit. Staunend betritt er den Palast seines verlorenen Lebens.

English Version

Hörfassung:

Die Frau, der Friedhof, die Grabsteine – alles verschwamm auf einmal vor meinen Augen. Ein unsichtbarer Vorhang ging vor mir nieder und trennte mich von meiner Umgebung. Ich trat in eine andere Wirklichkeit ein.
Benommen sah mich in einem großen Palast aufwachen. Wie selbstverständlich streifte ich durch das Labyrinth seiner Gemächer, in dem ich mich blind zurechtfand. Ich wusste: Dies war mein Zuhause, all diese Räume hatte ich selbst eingerichtet.
Manche Zimmer waren durch breite Flügeltüren voneinander abgegrenzt, andere gingen ineinander über oder waren nur durch dünne Falttüren voneinander getrennt. Dann aber gelangte ich an eine Tür, die fest verschlossen war.
Die Haustür konnte es nicht sein, dafür war sie viel zu klein, viel zu verstaubt und auch zu hoch gelegen. Dennoch spürte ich instinktiv, dass dies eine ganze besondere Tür war. Ich wollte, ich musste sie öffnen, so gut sie auch gesichert war. Mit aller Macht stemmte ich mich gegen das von Querlatten aus Eisen zusammengehaltene Holz. Die Tür knarrte, sie ächzte unter meinen Attacken – bis sie sich schließlich mit einem Ruck öffnete.
Hinter der Tür aber befand sich nicht etwa ein weiteres Zimmer oder gar der Übergang in einen anderen Palast. Es handelte sich vielmehr schlicht um eine Tür in einer Außenwand, die geradewegs ins Nichts führte. Ich stürzte durch sie hinab in die Dunkelheit, halt- und orientierungslos erlag ich dem Sog der Tiefe.
Merkwürdigerweise war es jedoch kein sich selbst beschleunigender Sturz. Stattdessen hatte ich schon bald den Eindruck, dass er sich abschwächte. Schließlich war es mir fast, als würde ich schweben, und am Ende hatte ich sogar das Gefühl, wieder nach oben getragen zu werden.
Tatsächlich befand ich mich kurz darauf wieder in dem Palast, aus dem ich ins Nichts gestürzt war. Erleichtert atmete ich auf und begann wieder durch die Gemächer zu schlendern.
Zu meinem Erstaunen sah jedoch auf einmal alles ganz verändert aus. Die Türen hatten sich verschoben, die Räume waren mal kleiner, mal größer oder anders eingerichtet, als ich sie in Erinnerung hatte. Seltsamerweise kamen sie mir aber trotzdem genauso vertraut vor wie in ihrer vorherigen Gestalt. Auch hier war ich, wie ich deutlich spürte, einmal zu Hause gewesen. Es war, als hätte ich zweimal gelebt und wäre nun in mein erstes, schon früher abgelegtes Leben zurückgekehrt.
„Gesa?“ flüsterte ich tonlos. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an den Namen der vor mir stehenden Frau, die kaum merklich nickte.
„Aber wie … wie ist das möglich?“ stotterte ich. „Ausgerechnet hier … Und warum kannst du mich überhaupt sehen? Ich … ich bin doch eigentlich gar nicht da, das heißt, ich meine …“
Ein halb belustigter, halb melancholischer Blick traf mich: „Dann sieh doch mal genauer hin …“
Und tatsächlich: Erst jetzt, als ich die Gestalt vor mir aufmerksamer betrachtete, fiel mir auf, dass das Mondlicht geradewegs durch sie hindurchzugreifen schien. Erst jetzt erkannte ich auch, dass ihre Haare sie umflossen, als würde sie unter Wasser schweben, und dass ihr Gesicht vor meinen Augen verschwamm, als würde ich mir ihre Existenz nur einbilden.
Ich begriff: Dieses Wesen war ebenso nachtgeboren wie ich, auch diese Frau war eine lebende Tote, eine Rückkehrerin in eine Welt, aus der sie längst verstoßen worden war. Wir lebten beide in derselben Zwischenwelt – nur deshalb konnte einer die Gegenwart des anderen wahrnehmen.
Wieder flog ich durch endlose Räume, erneut setzte mein Geist für ein paar Augenblicke außerhalb der Zeit in ein anderes Land über, in dem ich einmal zu Hause gewesen war.
Ich sah mich in einer Zwei-Zimmer-Wohnung irgendwo in einer großen Stadt sitzen, umgeben von Baukastenmöbeln, Deckenflutern und schmucklosen Gardinengirlanden, dem Spiegelbild eines sich als Provisorium inszenierenden Lebens. Mittendrin, als Andeutung einer geregelten Eigenheimzukunft, ein kleiner Teddybär mit einem roten Herzchen auf den Knien.
Es ist die gemeinsame Wohnung von Gesa und mir, wir gehen beide morgens aus dem Haus und kehren abends wieder heim, gerade hat ein Schwangerschaftstest uns den Ritterschlag einer ordentlichen Familie prophezeit. Abends lümmeln wir uns zwischen Schwangerschaftsratgebern auf das Sofa und sprechen über unsere Zukunft, die sich vor uns ausbreitet wie eine weite, wohlstrukturierte Ebene.
Dann aber fressen sich ganz unerwartet Gewitterwolken in diesen ewigen Sommer. Die Firma, für die ich arbeite, wird von einem Investor übernommen. „Verschlankung“ ist das Wort der Stunde, betriebsbedingte Kündigungen umwerben die Aktionäre. Die Finger zittern, wenn man in sein Postfach greift oder seinen E-Mail-Account öffnet.
Mein Urteil ereilt mich schließlich in Form eines Abfindungsvertrags. Der Betriebsrat empfiehlt mir, zuzustimmen, mehr habe man nicht herausschlagen können.
Von da an geht Gesa morgens allein aus dem Haus. Ich putze derweil lustlos in Ecken herum, in die ich nie zuvor geschaut habe, koche ungenießbares Zeug – obwohl Gesa mir mit heroischer Selbstüberwindung versichert, es schmecke köstlich – und stopfe Kleider in die Waschmaschine, die noch gar nicht dreckig sind. Die Bewerbungen, die ich dutzendweise schreibe, kommen – wenn überhaupt – ungelesen, bestenfalls von einem standardisierten Ablehnungsschreiben begleitet, zurück.
Irgendwann fülle ich dann auf meinem wöchentlichen Lottoschein einen zweiten, einen dritten, schließlich alle verfügbaren Kästen aus. Am Ende werde ich zum Systemspieler – es muss doch möglich sein, das Glück zu erzwingen! Als das nicht zum Erfolg führt, fange ich an, ins Casino zu gehen, natürlich tagsüber, damit Gesa nichts davon mitbekommt.
Schon nach kurzer Zeit ist meine gesamte Abfindung aufgebraucht. Daraufhin besorge ich mir einen Kredit, offiziell für Renovierungsarbeiten, aber dann verspiele ich das ganze Geld an einem einzigen Vormittag.
Gesa macht mir keine Vorwürfe, wie auch, sie weiß ja nichts von meinem ruinösen Zeitvertreib, und an meiner Entlassung trifft mich keine Schuld. Dennoch spüre ich, wie sie sich nachts schlaflos hin und her wälzt, und das nicht nur wegen der üblichen Schwangerschaftsübelkeit. Sie weiß zwar, dass man ihr während der Schwangerschaft nicht kündigen kann. Allerdings hat sie nur einen befristeten Vertrag, und sie ist sich sehr wohl darüber im Klaren, dass man diesen einer Mutter mit Kleinkind kaum verlängern wird.
Die Zukunft, eben noch so klar und unbefleckt, hatte sich auf einmal zu einem dunklen Tunnel verengt, von dem niemand sagen konnte, wohin er führte.

Gebundene Ausgabe 2015

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überarbeitete Ausgabe 2023

Kindle

ePub (Lehmanns)

English Version

The Destroyed Future

His encounter with Gesa opens the door to a distant past for Ahmet. Amazed, he enters the palace of his lost life.

The woman, the cemetery, the gravestones – everything suddenly blurred before my eyes. An invisible curtain descended in front of me and separated me from my surroundings. I crossed over into another reality.
Dazed, I saw myself waking up in a large palace. As if it were a matter of course, I wandered through the labyrinth of its chambers, in which I blindly found my way around. I was aware that this was my home, that I had furnished all these rooms myself.
Some rooms were separated from each other by wide double doors, others merged into each other or were only separated by thin folding doors. But then I came to a door that was firmly closed.
It couldn’t be the front door, it was much too small, much too dusty and also too high up. Nevertheless, I instinctively felt that this was a very special door. I knew, I had to open this door, no matter how well it was secured. With all my might, I pressed myself against the wood held together by iron crossbars. The door creaked, it groaned under my attacks – and then it finally opened with a jerk.
Behind the door, however, I did not stumble into another room or a passage to another palace. It was simply a door in an outer wall that led straight into nothingness. Succumbing to the pull of the depths, I plunged through it into the darkness.
It was not the self-accelerating fall I had expected, though. Instead, I soon had the impression that the pace was slowing down. Finally, I almost seemed to float through the air, and in the end I even felt as if I were being carried upwards again.
In fact, shortly afterwards I found myself back in the palace from which I had fallen into nothingness. I breathed a sigh of relief and began to stroll through the chambers again.
To my astonishment, however, everything suddenly looked completely different. The doors had shifted, the rooms were sometimes smaller, sometimes larger or differently furnished than I recalled them. Strangely enough, they still looked just as familiar to me as they had before. I clearly felt that I had once been at home here, too. It was as if I had lived twice and had now returned to my first life, which I had already abandoned earlier.
„Gesa?“ I whispered tonelessly. Suddenly I remembered the name of the woman standing in front of me, who nodded almost imperceptibly.
„But how … how is that possible?“ I stammered. „In this cemetery of all places … And why can you see me at all? After all, I … I am not actually here, that is, I mean …“
I was met by a half-amused, half-melancholic gaze: „Well, take a closer look …“
And indeed, only now, as I looked more attentively at the figure in front of me, I noticed that the moonlight seemed to reach straight through this fluorescent body. Only now did I also realise that the hair flowed around the figure as if the body were floating under water, and that the face blurred before my eyes as if I were only imagining the existence of this immaterial being.
So it became clear to me that this creature was as night-born as I was, that this woman was also a living dead person, a returnee to a world from which she had long since been cast out. We both lived in the same in-between world – only for that reason was it possible for us to perceive each other’s presence.
Once again I flew through endless rooms, once again my mind crossed over for a few moments outside of time to another land where I had once been at home.
I saw myself sitting in a two-room flat somewhere in a big city, surrounded by modular furniture, ceiling floods and functional curtain garlands, the mirror image of a life staging itself as a provisional arrangement. In the middle of it all, as a hint of a settled future, a little teddy bear with a red heart on its knees was enthroned.
It is Gesa’s and my shared flat, we both leave the house in the morning and return home in the evening, a pregnancy test has just prophesied us the accolade of a proper family. In the evening we lounge on the sofa between pregnancy guidebooks and talk about our future, which spreads out before us like a wide, well-structured plain.
But then, quite unexpectedly, storm clouds eat into this eternal summer. The company I work for is being taken over by an investor. „Downsizing“ is the word of the day, layoffs woo the shareholders. The fingers tremble when you reach into your PO box or open your email account.
My sentence finally hits me in the form of a severance agreement. The works council advises me to accept it, saying that nothing more can be achieved for those who have been dismissed.
From then on, Gesa leaves the house alone in the morning. For my part, I listlessly clean corners I’ve never looked into before, cook inedible food – although Gesa heroically assures me it tastes delicious – and stuff clothes into the washing machine that aren’t actually dirty yet. The applications I write by the dozen come back unread – if at all –, accompanied at best by a standardised rejection letter.
At some point I fill in a second, a third, finally all available boxes on my weekly lottery ticket. In the end, I spend vast sums to play according to a magic system praised on the internet – it must be possible to force luck! Since this doesn’t lead to success, I start going to the casino, during the day of course, so that Gesa doesn’t notice.
After a short time, my entire severance pay is used up. Thereupon I get myself a loan, officially for renovation work, and gamble away the whole fortune in a single morning.
Gesa doesn’t reproach me. After all, I’m not to blame for my dismissal, and she doesn’t know anything about my ruinous pastime. Nevertheless, I can feel her tossing and turning sleeplessly at night, and not just because of the usual pregnancy sickness. Although she knows that she cannot be dismissed during pregnancy, she is well aware that her temporary contract will hardly be renewed for a mother with a small child.
The future, a moment ago so clear and unclouded, had suddenly narrowed into a dark tunnel whose destination no one knew.

Bilder / Images: Sean Wareing: Surreale Landschaft / Surreal Landscape (Pixabay); Karen Nadine: Surreale Tür / Surreal Door (Pixabay)

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