Unmögliche Begegnung / Impossible Encounter

Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming

Achmet geht zum Friedhof, um nach seinem Grab zu suchen. Dort stößt er jedoch auf etwas ganz anderes, völlig Unerwartetes.

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Als ich auf dem Friedhof ankam, war es bereits Nacht geworden. Mit bleichen Fingern griff der Mond durch das zerfledderte Geäst der Bäume. Ich musste an die fledermaushaften Vampire denken, an ihren lautlos-sanften Flügelschlag, ihre makellose Blässe, hinter der sich ein blutrünstiges Geheimnis verbarg.
Für einen Augenblick war ich fest davon überzeugt, dass mein Grab leer sein müsse und der Sarg geöffnet, das Leichentuch von frischem Blut befleckt. Erst dann besann ich mich wieder darauf, dass ich ja eigentlich kein Untoter, sondern eher eine Art Toter auf Heimaturlaub war, dem für seine Reise ein behelfsmäßiges Kleid übergeworfen worden war. Das Kostüm meines alten Lebens konnte demnach ungestört vor sich hinmodern.
Die Gräber der Neuankömmlinge befanden sich alle am anderen Ende des Friedhofs. Um dorthin zu gelangen, musste ich die Stadt der Toten einmal der Länge nach durchqueren. So bog ich in den kiesbedeckten Hauptweg ein, wo sich das Mondlicht wie in einem unsichtbaren Flussbett sammelte.
Die alten, halb verwitterten Grabsteine, die sich links und rechts des Weges aneinanderreihten, schienen in dem weltentrückten Licht zu neuem Leben zu erwachen. Ihre Schatten dehnten sich hinter ihnen aus wie dunkle Arme, als würden die darunter Liegenden sich, aus tiefem Schlaf erwachend, ausgiebig recken und strecken.
Auf einem Grab schien sich gar ein ganzes Netz von Schlangen zu winden, als hätte der hier Beerdigte seine Lebenskraft auf eine andere Existenzform übertragen. Erst als ich näher hinsah, erkannte ich, dass es sich bei den vermeintlichen Schlangen in Wahrheit um ein Gewirr aus Efeuzweigen handelte.
So schienen selbst die Toten über mehr Leben zu verfügen als ich, durch den das Mondlicht achtlos hindurchschien, den es mied wie einen Splitter jener dunklen Materie, die da war, ohne doch wahrgenommen werden zu können. Die Wirklichkeit dieser Welt war wie ein Meer, das sich vor der Steilwand meiner unmöglichen Existenz zurückzog.
Der würzige Geruch aufgewühlter Erde stieg mir in die Nase – ich war vor den frisch ausgehobenen Gräbern angelangt. Wie in einem Aktenschrank des Todes drängte sich ein Grab an das andere, ein jedes millimetergenau und einer strengen Chronologie folgend an das andere angepasst. Wären nicht die tristen Holzkreuze gewesen, man hätte meinen können, an den Vorgärten einer Reihenhaussiedlung entlangzugehen.
Ich musste an meine erste Klassenfahrt denken, an den Lehrer, der lieber General geworden wäre. „Die Decken auf Kante legen“, hatte er jeden Morgen geschnarrt, „Ordnung ist das halbe Leben!“ Ja, dachte ich, das halbe Leben – und was ist mit der anderen Hälfte?
In meiner Situation brachte das strenge Sortiersystem allerdings auch unbestreitbare Vorteile mit sich. Ich musste nur die Reihe der Gräber abgehen bis zu den Toten des Datums, unter dem mein eigenes Ableben einsortiert war, dann konnte ich meine Ruhestätte eigentlich gar nicht verfehlen.
Am letzten Augustwochenende waren im Zuständigkeitsbereich des Friedhofs insgesamt vier Personen gestorben. Hastig überflog ich die Namen auf den provisorischen Holzkreuzen – meiner war nicht dabei. Ob die Zeitung, in der ich von meinem Tod gelesen hatte, diesen vielleicht erst mit Verzögerung gemeldet hatte? Ich ging auch die Namen auf den Holzkreuzen der beiden Vortage durch, aber auch unter diesen suchte ich meinen Namen vergebens.
Mir fiel ein, dass meine Mutter ebenfalls auf diesem Friedhof beerdigt war. Konnte es nicht sein, überlegte ich, dass man mich in ihr Grab gebettet hatte, ihr also sozusagen ihr eigen Fleisch und Blut zurückerstattet hatte? Hatte meine Mutter früher nicht sogar von der Idee einer Familiengruft gesprochen? Gab es hierzu vielleicht einen Vertrag, von dem ich nichts wusste oder dessen Existenz ich vergessen hatte?
Ich war schon seit einiger Zeit nicht mehr am Grab meiner Mutter gewesen, so dass ich den richtigen Weg nicht auf Anhieb fand. Nach einigem Suchen gelangte ich aber schließlich doch an ihre Ruhestätte.
Ich hätte mir indessen die Mühe sparen können: Auch dort deutete nichts auf meinen Tod hin. Es war, als hätte ich nie gelebt, als wäre meine Existenz ein peinliches Versehen gewesen, über das man nach meinem Ableben rasch den Mantel des Schweigens gebreitet hatte.
Hatte ich mich etwa im Friedhof geirrt? Aber nein, das war ausgeschlossen: Dies war der Friedhof für den Stadtbezirk, in dem ich gewohnt hatte, und eine auswärtige Begräbnisstätte oder eine Beerdigung in einem Friedwald hatte ich nie in Erwägung gezogen.
Was also war der Grund dafür, dass mein Tod totgeschwiegen wurde? Hatte ich mir mein früheres Leben am Ende nur eingebildet? War dieses ebenso ein Traum, wie sich mein Aufenthalt auf der anderen Seite des Seins, den ich zunächst für einen Traum gehalten hatte, am Ende als Wirklichkeit erwiesen hatte? Oder war mein Tod nur kurzzeitig aus der Wirklichkeit ausradiert worden, weil ich – wenn auch in anderer Form – ja doch noch irgendwie existent war?
Gedankenversunken schlenderte ich wieder zurück zu der Reihe der frisch ausgehobenen Gräber. Ich wollte sie noch einmal genauer in Augenschein nehmen, und zwar dieses Mal auch für die Zeit nach meinem vermeintlichen Todesdatum. Vielleicht hatte ich ja irgendetwas übersehen, oder das Ablagesystem war doch nicht so perfekt, wie es aussah, und hatte mir einen seiner eigenen Logik widersprechenden Platz zugewiesen.
Ich hatte mein Ziel schon fast erreicht, als mein Blick plötzlich auf eine Gestalt fiel, die mir fast wie ein Spiegelbild meiner selbst erschien. Das Mondlicht umgoss sie mit einem Schleier aus geschmolzenem Wachs, und da ihre Füße von den Grabsteinen verdeckt waren, sah es so aus, als würde sie schweben. Suchend irrte sie unweit jener Stelle umher, an der auch ich zuvor nach Spuren meines Todes gefahndet hatte.
Eine merkwürdige Unruhe stieg in mir auf. Ich schob sie jedoch auf meine erfolglose Suche und maß ihr weiter keine Bedeutung bei. Achtlos ging ich auf die fremde Gestalt zu, in der Annahme, ich wäre für sie genauso unsichtbar wie für alle anderen Menschen, denen ich nach meiner Rückkehr in die Welt begegnet war.
Noch bevor ich die Gestalt erreicht hatte, blieb sie aber stehen und schaute mich unverwandt an. Im Widerschein des Mondes sah ich ein Gesicht aufleuchten, das mir fremd und zugleich seltsam vertraut vorkam. Es war, als würde die fahle Schrift der Nacht ihm sein ursprüngliches, lange verschüttetes Wesen zurückgeben.
Ein schwaches Flüstern mischte sich in das Rascheln des Laubs: „Achmet? Bist du das?“
Die Worte wirkten auf mich wie ein Windhauch, der in mir die Saiten eines verstaubten Instruments zum Schwingen brachte. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf, die selbst während meiner Reise durch die Kammer der Erinnerung die Schwelle meines Bewusstseins nicht überschritten hatten. Ich sah mich selbst in inniger Umarmung mit einer Frau, mein Fleisch brandete gegen ihres, tauchte ein in den fremden Körper, durchdrang ihn mit meinem Dasein, verlor sich in der Höhle seiner Wirklichkeit.
Das Seltsame daran war: Ich erlebte das Ganze als lustvoll, ich empfand nicht jenen Widerwillen, jene halb unbewusste innere Abwehr, die mich später jeden weiblichen als mütterlichen Schoß meiden ließ.
Und plötzlich erkannte ich: Die Frau, deren Bild da in mir aufgetaucht war, war dieselbe, die in jenem Augenblick vor mir stand.
„Ich kenne Sie …“, murmelte ich unbeholfen, mehr im tastenden Selbstgespräch als im Versuch, eine Unterhaltung zu beginnen.
Ein bitteres Lächeln glitt über das Gesicht der vertrauten Fremden. „Das will ich meinen“, entgegnete sie. „Schließlich waren wir ja auch mal miteinander verheiratet.“

Gebundene Ausgabe 2015

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überarbeitete Ausgabe 2023

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English Version

Impossible Encounter

When I arrived at the cemetery, night had already fallen. With pale fingers, the moon slid through the tattered branches of the trees. I couldn’t help but think of the bat-like vampires, their soundless way of flapping their wings, their immaculate pallor concealing a bloodthirsty secret.
For a moment I was firmly convinced that my grave must be empty and the coffin open, the shroud stained with fresh blood. Only then did I remember that I was not actually undead, but rather a kind of dead man on home leave who had been given a makeshift dress for his journey. The costume of my old life could therefore continue to moulder undisturbed.
The graves of the new arrivals were all at the other end of the cemetery. To get there, I had to cross the city of the dead completely lengthways. So I turned into the gravel-covered main path, where the moonlight gathered as if in an invisible riverbed.
The old, half-weathered gravestones that were lined up to the left and right of the path seemed to awaken to new life in the otherworldly light. Their shadows stretched out behind them like dark arms, as if those lying underneath, awakening from a deep sleep, were lolling with relish.
On one grave I even thought I saw a whole web of writhing snakes, as if the person buried there had transferred his life energy to another form of existence. Only when I looked closer did I realise that the supposed snakes were in fact a tangle of ivy branches.
Thus even the dead seemed to have more life than I, whom the moonlight carelessly shone through, whom it avoided like a fragment of that dark matter that was there without us being able to perceive it. The reality of this world was like a sea retreating before the steep face of my impossible existence.
The spicy smell of churned earth rose to my nose – I had arrived in front of the freshly dug graves. As if in a filing cabinet of death, one grave huddled next to the other, each precisely aligned with the other to the millimetre and following a strict chronology. Without the dreary wooden crosses, it would almost have looked like the front gardens of a terraced housing estate.
In my situation, however, the strict sorting system also had undeniable advantages. All I had to do was walk down the row of graves to the dead of the date under which my own demise was listed, then I couldn’t really miss my burial place.
On the last weekend in August, a total of four people had died in the cemetery’s area of responsibility. Hastily, I skimmed the names on the wooden crosses – mine was not among them. I wondered if the newspaper in which I had read about my death had perhaps reported it with some delay. So I also checked the names on the wooden crosses of the two previous days, but even among them I couldn’t find my name.
I remembered that my mother was also buried in this cemetery. Couldn’t it be, I thought, that I had been interred in her grave, that she had been given back her own flesh and blood, so to speak? Hadn’t my mother even mentioned the idea of a family crypt earlier? Was there perhaps a contract on this that I didn’t know about or had forgotten?
I had not been to my mother’s grave for some time, so I did not find the right way straight away. After some searching, however, I finally reached her resting place.
I could have saved myself the effort, though: At that place, too, nothing pointed to my death. It was as if I had never lived, as if my existence had been an embarrassing error that was quickly hushed up after my death.
Had I possibly been mistaken about the cemetery? But no, that was out of the question: This was the cemetery for the district in which I had lived, and I had never considered being buried elsewhere.
So why were there no traces of my death here? Had I only imagined my former life in the end? Had it possibly been nothing but a dream – just as my trip to the other side of being, which I had initially thought was a dream, had turned out to be reality in the end? Or had my death only been erased from reality for a short time, because I – although in a different form – still existed somehow?
Lost in thought, I strolled back to the row of freshly dug graves. I wanted to take another close look at them, this time also for the time after my presumed date of death. Maybe I had missed something, or maybe the filing system was not as perfect as it seemed and had assigned me a place that contradicted its own logic.
I had almost reached my destination when my gaze suddenly fell on a figure that seemed almost like a mirror image of myself. The moonlight poured a veil of molten wax around the strange creature, while the fact that the feet were hidden by the gravestones created the impression of a floating body. The eyes skimmed the graves not far from the place where I had searched for traces of my death.
A sense of unease rose in me. I blamed it on my unsuccessful search, though, and did not pay attention to it. Carelessly, I walked towards the strange figure, assuming that I was just as invisible to this creature as to all the other people I had met after my return to the world.
Before I reached the figure, however, the hovering person stopped and looked at me steadfastly. In the reflection of the moon I saw a face light up that seemed alien and familiar to me at the same time. It was as if the pale writing of the night gave it back its original, long-buried essence.
A faint whisper mingled with the rustling of the leaves: „Ahmet? Is that really you?“
The words had an effect on me like a breeze that made the strings of a dusty instrument vibrate within me. Images appeared before my inner eye that had not crossed the threshold of my consciousness even during my journey through the chamber of memory. I saw myself in intimate embrace with a woman, my flesh surging against hers, I immersed myself in the other body, permeating it with my being, losing myself in the cave of its reality.
The strange thing was: The whole experience was pleasurable to me, I didn’t feel that reluctance, that half unconscious inner resistance which later made me avoid any female womb as a maternal one.
And suddenly I realised: the woman whose image had appeared in me was the same one who was standing in front of me at that moment.
„I know you …“, I mumbled awkwardly, more in groping soliloquy than in an attempt to start a conversation.
„That’s not surprising,“ the strangely familiar figure replied with a bitter smile. „After all, we were married once.“

Bilder / Images: Bluemaroo3: Friedhof bei Nacht / Cemetery by night (Pixabay); Twilightzone: Geist / Ghost (Pixabay; Ausschnitt/detail)

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