Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming
Achmet zieht es zurück zu seiner alten Wirkungsstätte, dem Theater. Ob er dort wohl auf Spuren des Verbrechens stoßen wird, dem er zum Opfer gefallen ist?
Hörfassung:
Angenommen, jemand hätte mir damals, als ich noch in der Welt zu Hause war, einen plötzlichen Tod prophezeit und mir die Frage gestellt: Wenn du danach noch einmal für ein paar Tage aus dem Totenreich zurückkehren dürftest – was würdest du mit deiner Zeit anfangen? – Mir wären wahrscheinlich tausend Dinge eingefallen, die ich hätte nachholen wollen: einen Freund besuchen, den ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe; meinen Kindheitstraum von der Besteigung der Pyramiden verwirklichen; meine Jugendliebe wiederfinden; ans Ende der Welt reisen, wo auch immer das sein mochte.
Nun aber, da meine Rückkehr aus dem Totenreich Realität geworden war, musste ich feststellen, dass ich eingezwängt blieb in den Bahnen meiner früheren Existenz. Wie eine elektronische Fußfessel begleitete sie mich überallhin, ich blieb gefangen darin, obwohl ich sie längst abgestreift hatte. Die Vergangenheit war meine Gegenwart, eine Zukunft gab es für mich nicht mehr.
Ohne dass ich meine Schritte bewusst dorthin gelenkt hätte, merkte ich plötzlich, dass ich mich ganz in der Nähe meiner ehemaligen Wirkungsstätte – dem Central-Theater – befand. Der breite Bürgersteig vor der Glasfront des Foyers, wo sich abends die amüsierhungrigen Massen stauten, wirkte zu dieser Stunde seltsam verwaist.
Nicht, dass es besonders früh am Tag gewesen wäre. Es musste bereits auf zehn Uhr zugehen, für manch einen war der Arbeitstag da schon halb vorbei. Aber für Menschen, die ihren Dienst vorwiegend in den Abend- und Nachtstunden verrichten, ist der Vormittag nun einmal das, was für andere der Morgen ist.
Ich musste daran denken, wie mich selbst dann, wenn ich nicht auftreten musste, abends oft eine werwölfische Unruhe befallen hatte – ein unwiderstehlicher Drang, mich zu häuten, während mir gleichzeitig war, als würde meine Haut sich wie ein klebriger Panzer um mein aus sich selbst herausstrebendes Ich legen. In der Regel ertränkte ich meine Unruhe dann im Alkohol, durch den ich immerhin das Bewusstsein meiner selbst betäuben und mir so einbilden konnte, den Käfig meines Ichs zu verlassen.
Die Angst vor dem Erwachen aus dem Rausch, vor der trostlosen Rückkehr zu mir selbst, ließ mich dann nicht selten ganz in der Höhle der Nacht versinken. Wenn mich schließlich der Morgen aus ihr heraustrieb, konnte ich mir nur mit starkem Kaffee den Überdruss aus den Gliedern spülen.
Die Erschöpfung, die mich nach solchen Exzessen irgendwann gegen Mittag überfiel, war folglich mit einer unnatürlichen Erregung gepaart, die ich nur mit Schlafmitteln unterdrücken konnte. War dann für den Abend eine Vorstellung angesetzt, musste ich mich dafür wiederum mit Aufputschmitteln fit machen. So war ich mitunter tagelang in einem Teufelskreis aus Giften und Gegengiften gefangen.
Da ich nicht der Einzige war, der durch die Arbeit am Theater zum Nachttier mutiert war, begannen die Proben für neue Aufführungen nie vor zehn Uhr vormittags. Kluge Regisseure legten die Proben sogar ausschließlich auf den Nachmittag. Es blieb ihnen dann zwar weniger Zeit für die Vorbereitung des neuen Stücks, doch konnten sie dafür eher mit der geistigen Frische und der Vollzähligkeit ihrer Akteure rechnen.
Da ich ja mittlerweile wusste, dass verschlossene Türen kein Hindernis mehr für mich darstellten, schaute ich gar nicht erst nach, ob die Ticketausgabe im Foyer des Theaters schon geöffnet war. Stattdessen begab ich mich gleich zum Hintereingang, dorthin, wo sich die Werkstatt der Illusionen befand, das Laboratorium der Phantasie, der große Umkleideraum der Welt.
Gleich neben dem Eingang reihten sich, nur durch Sperrholzwände voneinander getrennt, die Künstlergarderoben aneinander. Türen gab es nicht, stattdessen dienten Vorhänge der Abschirmung nach außen. Es war eine Art Zwischenreich, ein gleitender Übergang zwischen Privatsphäre und radikaler Öffentlichkeit, wie sie einem die abendlichen Auftritte abverlangten.
Zielstrebig steuerte ich auf die letzte Garderobe in der Reihe zu. Sie war etwas größer als die anderen und blieb zudem, da der Bühnenaufgang sich schützend vor sie schob, auch als einzige von der ständigen Zugluft verschont.
Ich knipste das Licht an und sah mich in dem schlauchartigen Raum um. Mein Blick fiel auf ein paar Zutaten der abendlichen Maskerade – einen albernen Hut, eine grellbunte Jacke, einen künstlichen Bart –, auf eine Flasche Cognac und Schminkutensilien, das Handwerkszeug des sich selbst verwandelnden Zauberers. Auf dem Ankleidetisch lag ein aufgeschlagenes Manuskript, in dem sich jemand mit Bleistift Notizen gemacht hatte: Merkhilfen, Betonungszeichen, Umformulierungen.
Neben der Kladde gammelten ein angebissenes Brötchen und eine Tasse mit abgestandenem Kaffee vor sich hin. Der breite Wandspiegel war umkränzt von Zeitungsausschnitten, die das Loblied auf einen ganz bestimmten Schauspieler sangen. Außerdem hingen dort Fotos, die den Mimen mit verliebt grinsenden Damen zeigten, beim Handschlag mit einem befrackten Herrn und auf einem Empfang, bei dem ihm irgendeine goldene Ananas überreicht worden war.
Ich kannte jeden Winkel in dieser Garderobe, jeden blinden Fleck auf dem Spiegel, ja, ich meinte sogar noch meinen Geruch in der Luft wahrzunehmen. Trotzdem fühlte ich mich seltsam fremd an diesem Ort. Denn zwar kannte ich den Schauspieler auf den Fotos nur allzu gut. Das Problem war nur: Es waren nicht meine Fotos, sie zeigten nicht mich, sondern meinen Konkurrenten mit dem lächerlichen Künstlernamen „Harry Stern“, der mir schon immer meine Rollen, meinen Ruhm und meine zugluftfreie Garderobe geneidet hatte. Nun hatte er also gesiegt.
Nichts in der Garderobe deutete noch auf meine Existenz hin, keines meiner eigenen Fotos hing noch an der Wand. Selbst das Hufeisen, das ich einmal im Wald gefunden und als Talisman hinter den Spiegel geklemmt hatte, war verschwunden. Ich fragte mich, ob man wenigstens Salvatore Gelegenheit gegeben hatte, die Scherben meines Daseins einzusammeln – oder ob man diese einfach weggekehrt hatte wie die peinlichen Überbleibsel eines Polterabends.
Andererseits: Was hatte ich denn erwartet? Dass man meine Garderobe in einen Ort des Gedenkens an den großen Künstler umwandeln würde, der hier einmal seine Aura verströmt hatte? Dass man zu meinen Ehren einen Altar errichten würde, mit Heiligenbildchen des teuren Verblichenen und wehmütig flackernden Lichtlein davor? Ich wusste doch genau, dass das gar nicht möglich war! Irgendjemand musste ja meine Rolle übernehmen, irgendjemand musste in die Lücke stoßen, die mein plötzliches Ausscheren hinterlassen hatte. Wie hätte sonst der Theaterbetrieb aufrechterhalten werden sollen?
Abgesehen davon, lag es wohl auch nicht in der Natur eines Schauspielers, lange um einen verstorbenen Kollegen zu trauern. In einer Welt der Maskeraden begegnet man sich eben auch untereinander immer mit einer Larve vor dem Gesicht. Was man von einem anderen mitbekommt, sind nur die flüchtigen, ständig wechselnden Erscheinungen, die er selbst von sich erzeugt.
Da man auf diese Weise nie einen Kollegen richtig kennenlernt, fällt es in diesem Umfeld auch schwer, einen Toten zu beweinen. Ich selbst habe mich in solchen Fällen auch immer wieder dabei ertappt, den Tod nur als eine Art von Verkleidung zu betrachten, die der Verstorbene bei nächster Gelegenheit wieder ablegen würde, um in neuer Gestalt wiederaufzuerstehen.
Ernüchtert verließ ich die Garderobe. Ich verstand auf einmal gar nicht mehr, warum mich dieser Ort, wo alles mich verleugnete, so magisch angezogen hatte. Hatte ich etwa gehofft, hier nach so langer Zeit noch Spuren meines Mörders zu finden – eines Mörders, der seine Tat so perfekt getarnt hatte, dass noch nicht einmal diejenigen, die auf diese Dinge spezialisiert waren, sie als solche erkannt hatten? Wie auch immer – wenn es je welche gegeben hatte, hatten die Spuren meines Todes sich mittlerweile ebenso verflüchtigt wie die meines Lebens.

Gebundene Ausgabe 2015

English Version
The Foot Chain of the Past

Suppose someone had foretold me a sudden death back then, when I was still at home in the world, and asked me the question: If you were allowed to return from the realm of death for a few days afterwards – how would you spend your time? – I guess I would have thought of a thousand things I had failed to do during my lifetime: visit a friend I haven’t seen for too long; realise my childhood dream of climbing the pyramids; find my teenage love again; travel to the end of the world, wherever that might be.
But now that my return from the realm of death had become true, I had to realise that I remained trapped in the paths of my former existence. Like an electronic foot chain, it accompanied me everywhere, I remained trapped in it, even though I had long since cast it off. The past was my present, a future no longer existed for me.
Without having consciously directing my steps there, I suddenly realised that I was close to my former place of work – the Central Theatre. The wide pavement in front of the glass front of the foyer, where the crowds thirsting for amusement used to gather in the evenings, seemed strangely deserted at that hour.
It was by no means particularly early. Soon it would be ten o’clock, for some people the working day was already half over. But for those who work mainly in the evening and at night, noon is what morning is for others.
I remembered how, even when I didn’t have to perform, I was often overcome by a werewolfish restlessness in the evening – an irresistible urge to shed my skin, while at the same time I felt as if the latter were wrapped around me like a sticky shell, preventing me from breaking out of myself. As a rule, I then drowned my restlessness in alcohol, through which I could at least numb the consciousness of myself and thus imagine leaving the cage of my ego.
The fear of waking up from the inebriation, of the bleak return to myself, often made me lose myself completely in the cave of the night. When the morning finally drove me out of it, I could only flush the weariness out of my limbs with strong coffee.
The exhaustion that usually overwhelmed me after such excesses around noon was consequently accompanied by an unnatural excitement that I could only suppress with sleeping pills. If in such a situation a performance was scheduled for the evening, I needed stimulants to get myself in shape for it. So I was sometimes trapped for days in a vicious circle of poisons and antidotes.
Since I was not the only one who had mutated into a nocturnal animal through working in the theatre, rehearsals for new performances never started before ten in the morning. Wise directors even scheduled rehearsals exclusively for the afternoon. This gave them less time to prepare the new play, but in turn they could count on the full attendance and mental freshness of their actors.
Since I knew by now that closed doors were no longer an obstacle for me, I didn’t even check whether the ticket office in the foyer of the theatre was already open. Instead, I went straight to the stage entrance, to the place where the workshop of illusions was located, the laboratory of imagination, the never-ending carnival of the world.
Right next to the entrance, the artists‘ dressing rooms were lined up, separated only by plywood walls. There were no doors, instead curtains served to shield the artists from the outside. It was a kind of in-between realm, a smooth transition between privacy and unrestrained public life, as demanded by the performances.
Purposefully, I headed for the last dressing room in the row, which was a little bigger than the others. Protected by the staircase to the stage in front of it, it was also the only dressing room that was not affected by the constant draught.
I switched on the light and looked around the tube-shaped room. My gaze fell on a few ingredients of the evening’s masquerade – a silly hat, a garishly coloured jacket, an artificial beard – as well as on a bottle of cognac and make-up utensils, the tools of the self-transforming magician. On the dressing table I saw an open manuscript in which someone had made notes in pencil: memory aids, stress marks, rephrasings.
Next to the script, a bitten sandwich and a cup of cold coffee were attracting some flies. The wide wall mirror was surrounded by newspaper cuttings praising a particular actor. In addition, there were photos of the actor with ladies grinning amorously at him, with an apparently high-ranking gentleman shaking his hand, and at a black-tie gala where he had been awarded some third-rate prize.
I knew every nook and cranny of this dressing room, every blind spot on the mirror, I even thought I could still smell my own scent in the air. Yet I felt strangely alien in that place. Because even though I knew the actor in the photos all too well, they didn’t show me, but my competitor with the ridiculous stage name „Harry Star“, who had always envied me my roles, my fame and my draught-free dressing room. So now he had won.
Nothing in the dressing room still hinted at my existence, none of my own photos still hung on the wall. Even the horseshoe I had once found in the forest and stuck behind the mirror as a talisman was gone. I wondered if Salvatore had at least been given the opportunity to collect the shards of my existence – or if they had simply been swept away like the embarrassing remnants of a stag party.
On the other hand, what had I expected? That my dressing room would be transformed into a place of remembrance for the great artist who had once exuded his aura here? That my colleagues would erect an altar in my honour, with images of the dearly departed and wistful flickering lights in front of it? After all, I knew very well that this was impossible! Someone had to take over my role, someone had to fill the gap left by my sudden decease. How else could the show have been kept going?
Apart from that, it was probably not in the nature of an actor to mourn a deceased colleague for long. In a world of masquerades, people only see each other with a mask in front of their faces. Only their fleeting, ever-changing appearance is visible, their interior never penetrates to the outside.
Since in this way you never really get to know a colleague, it is also difficult to mourn a dead person under these circumstances. In such cases, I have always found myself imagining death as a kind of disguise that the deceased would take off at the next opportunity to resurrect in a new guise.
Disillusioned, I left the dressing room. Suddenly I no longer understood why I had been so irresistibly attracted to this place where everything denied me. Had I hoped to find traces of my murderer here after so long – a murderer who had disguised his deed so perfectly that not even those who were experts in these things had recognised it as such? In any case, if there had ever been any, the traces of my death had by now evaporated just like those of my life.
Bilder / Images: Ruth Archer (LunarSeaArt): Venezianische Maske / Venetian Mask (Pixabay); Anja (Cocoparisienne): Zaubernde Fee / Magic Fairy (Pixabay)
