Ein Völkermord als Mord an einem „Brudervolk“. Das weckt Assoziationen an den biblischen Brudermord – und passt zu der archaischen Gewalt des Angriffs.
A genocide as murder of a „brother nation“. This evokes associations with the biblical fratricide – and fits the archaic violence of the attack.
Bröckelndes Gebälk, einstürzendes Gestein … Nicht mehr lange, und das Haus wird über dir zusammenstürzen. Die Frage ist nur, ob du dann noch leben wirst oder ob die Belagerer, die jetzt das Haus stürmen, dich vorher erschossen haben werden.
Du fasst dir an die Schulter. Die Stelle, wo der Schuss dich getroffen hat, brennt und pocht, der Hemdfetzen darüber ist schon ganz durchtränkt von Blut. Das Gute daran: Das Rauschen in deinem Kopf macht dich von Minute zu Minute benommener, ein watteweicher Nebel hüllt dich ein, in dem dir Flügel wachsen, die dich langsam hinaustragen aus diesem finsteren Tal.
Dein Gehirn veranstaltet eine Art Tontaubenschießen. Ständig flattert ein neuer Gedanke vor dir auf, du musst genau zielen, um ihn zu treffen. Irinas Gesicht taucht vor dir auf, sie lächelt dir zu, bevor sie Natascha, euer Töchterchen, bei der Hand nimmt, um sie zur Schule zu bringen. Aber Natascha reißt sich los und drückt dir noch einen Kuss auf die Wange.
Du meinst, den Abdruck ihrer kleinen Lippen auf deiner bart-überwucherten Haut zu spüren, während du an die langen, unsicheren Fluchtwege denkst. Ob die beiden es wohl über die Grenze geschafft haben? Der Akku deines Handys ist schon seit Tagen leer, Strom ist wie ein Steinzeittraum von der Zukunft. Was mehr als einen Steinwurf entfernt ist, liegt auf einmal wieder in einer ganz anderen, unerreichbaren Welt.
Du tastest nach deinem Gewehr. Es liegt noch immer griffbereit neben dir auf dem Boden. Aber wirst du es mit deiner verletzten Schulter auch schnell genug in die Hand nehmen können, wenn die Angreifer kommen?
Du kauerst dich noch tiefer in die Nische zwischen dem umgekippten Schrank und der Wand, in die du dich zurückgezogen hast. Dein Gehirn vollführt weiter seine Fiebertänze. Jetzt zaubert es das Bild von Pawjel hervor, mit dem du in der frühen Kindheit so oft Verstecken gespielt hast – mit Vorliebe in alten, zerfallenen Häusern wie diesem hier.
Ausgerechnet Pawjel, denkst du, während der Nebel um dich her immer dichter wird; Pawjel, den eine Laune des Zufalls auf die andere Seite der Grenze geworfen hat. Wie er wohl jetzt über dieses Versteckspiel denkt, aus dem auf einmal tödlicher Ernst geworden ist?
Aber still – sind da nicht Schritte auf der Treppe zu hören?
Bröckelndes Gebälk, einstürzendes Gestein … Es ist völlig unsinnig, dieses Haus noch zu stürmen. Wer jetzt noch darin ist, wird ohnehin in Kürze unter seinen Trümmern begraben werden.
Aber je länger der Krieg andauert, desto mehr hast du dir abgewöhnt, die Befehle deiner Anführer zu hinterfragen. „Springen Sie ins Feuer!“ – „Jawohl, Herr General!“ – „Machen Sie einen Kopfstand, bevor Sie das Gewehr anlegen!“ – „Jawohl, Herr General!“ – „Denken Sie an Ihre Heimat, wenn Sie die fremde Heimat zerstören!“ – „Jawohl, Herr General!“
Und jetzt also: „Stürmen Sie das Haus, bevor es einstürzt!“ Gut, dann stürmst du halt. Vielleicht trifft dich aus irgendeinem Hinterhalt ein Schuss, vielleicht ist es genau umgekehrt. Es ist einfach eine neue Episode in diesem Russischen Roulette, das du Tag für Tag spielst.
Natürlich – du müsstest nicht mitspielen. Du könntest dem Zufall in den Arm fallen und den Schuss, den er für dich vorgesehen hat, aus freien Stücken wählen. Jetzt, hier, in diesem Moment könntest du mit dem Opfer deines eigenen Lebens das fremde Leben retten, das auszulöschen du im Begriff bist.
Aber dieser Gedanke existiert nur als gestaltloses Gefühl in dir. Als eine Schimäre, die du sogleich mit dem Gedanken abwehrst, dass dann eben ein anderer das Leben auslöschen würde, das du durch deinen Tod erlöst hast.
Der Krieg hat nun einmal seine eigene Dynamik. Eine Dynamik, in der das Zucken des Fingers am Abzug schneller ist als jeder Gedanke.
Mittlerweile hast du den oberen Treppenabsatz fast erreicht. Vorsichtig verlangsamst du deinen Schritt, damit das verräterische Knarren der Stufen nicht dein Todesurteil bedeutet.
Jetzt tastest du dich über den Flur, von dem zu beiden Seiten Wohnungen abgehen. Oder vielmehr: das, was einmal Wohnungen waren. Die Türen sind von der Wucht der Detonationen her-ausgebrochen worden, die Fenster sind nur noch klaffende Wunden, zwischen Schutt und Scherben sind hier und da noch die Trümmer einstiger Gemütlichkeit zu erkennen.
Mit vorgehaltener Waffe stellst du dich in jeden Wohnungseingang und gehst dann die Zimmerfluchten ab. Es ist, als würdest du bei Nacht über einen Friedhof gehen, immer in dem Bewusstsein, dass jeden Augenblick ein Geist aus einem Grab aufsteigen und dich in die dunkle Nacht hinabziehen kann.
Aber still – dort, in der Nische zwischen dem umgekippten Schrank und der Wand: Hat sich da nicht etwas bewegt? Versucht da nicht jemand, nach seinem Gewehr zu greifen und auf dich anzulegen?
Gerade möchtest du den tödlichen Schuss abgeben, da fällt ein Sonnenstrahl durch die Fensterhöhle – genau auf die Person, die dort hinten in der Ecke kauert und offenbar zu schwach ist, um ihr Gewehr aufzuheben.
Die Person hebt den Kopf, sie schaut dir direkt in die Augen, eure Blicke treffen sich, sie verflechten sich förmlich ineinander. Für einen kurzen Moment seid ihr nicht mehr zwei getrennte Existenzen, sondern ein einziges Dasein mit zwei Gesichtern, die durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden sind.
„Sergej?“ fragst du ungläubig.
„Pawjel?“ fragt der andere ebenso ungläubig zurück.
Langsam gehst du auf den am Boden Kauernden zu. Dein Gewehr, das du anfangs noch schussbereit in der Hand hältst, lässt du allmählich sinken. Als du den Verletzten erreichst, legst du es zur Seite und greifst nach dem Notfallset mit dem Verbandszeug, das du beim Eindringen in einsturzgefährdete Häuser immer bei dir trägst.
Entschlossen reißt du das blutdurchtränkte Hemd auf und drückst einen Mullverband auf die Wunde. Da der andere zittert – vielleicht vor Kälte, vielleicht im Fieberkrampf –, ziehst du deine Uniformjacke aus und legst sie ihm um die Schultern.
Dann setzt du dich neben ihn und holst die Feldflasche mit dem Wodka heraus. Du reichst sie ihm, zögernd greift er danach und führt sie zum Mund. Dann nimmst auch du einen Schluck.
Natürlich ist dir längst klargeworden, dass der Mann neben dir nicht Sergej ist – genauso wie du nicht Pawjel bist. Und doch ist jeder von euch für den anderen auf einmal der verlorene Freund aus Kindertagen.

English Version
Brotherhood
Crumbling roof beams, collapsing walls … A few more moments, then the house will crash down on you. The only question is whether you will still be alive then or whether the besiegers who are storming the house right now will have shot you beforehand.
You feel for your shoulder. The spot where the shot hit you is burning and throbbing, the scrap of shirt above it is already soaked with blood. The good thing about it: the rushing in your head makes you feel dizzier with each passing minute, a fog soft as cotton wool envelops you, in which you grow wings that will slowly carry you out of this dark valley.
Your brain is playing a kind of clay pigeon shooting game. Ever new thoughts fly up before you, you have to focus precisely to hit the target. Irina’s face appears in your mind, she smiles at you before taking Natasha, your daughter, by the hand to accompany her to school. But Natasha pulls herself free and gives you another kiss on the cheek.
You can almost feel the pressure of her small lips on your heavily bearded skin as you think of the long, uncertain escape routes. Have they made it across the border? Your mobile battery has been dead for days, electricity is like a Stone Age dream of the future. What is more than a stone’s throw away is suddenly in a completely different, unreachable world.
You grope for your rifle. It is still lying on the ground next to you, ready to hand. But with your injured shoulder, will you be able to pick it up quickly enough when the enemy arrives?
You crouch deeper into the niche between the overturned cup-board and the wall where you have taken shelter. Your brain con-tinues to perform its fever dances. Now it conjures up the image of Pavel, with whom you used to play hide-and-seek in early childhood – preferably in old, crumbling houses like this one.
Why Pavel, of all people, you think as the fog thickens around you – Pavel, who has been thrown to the other side of the border by a whim of chance? How will he feel now about this game of hide-and-seek that has suddenly become deadly serious?
A cracking noise. You hold your breath – aren’t there footsteps approaching on the stairs?
Crumbling roof beams, collapsing walls … It is completely senseless to storm this house. Whoever is still in it will soon be buried under its rubble anyway.
But the longer the war goes on, the more you have given up questioning the orders of your leaders. „Jump into the fire!“ – „Yessir!“ – „Stand on your head before you target the enemy!“ – „Yessir!“ – „Think of your homeland while destroying the foreign homeland!“ – „Yessir!“
And now the order is: „Storm the house before it crashes down!“ Well then, let’s storm the collapsing house. Maybe a shot will hit you from some ambush, maybe it will be the other way round. It’s just another episode in this Russian roulette you play day af¬ter day.
Of course – you wouldn’t have to play along. You could turn the arm of chance around and freely choose the shot that it has in store for you. Now, here, in this moment, you could save the other life with the sacrifice of your own life.
But this thought exists only as a shapeless feeling within you. As a chimera that you immediately ward off with the thought that someone else would then extinguish the life you have redeemed through your death.
After all, war has its own dynamics. Dynamics in which the twitching of the finger on the trigger is faster than any thought.
By now you have almost reached the top of the stairs. Carefully you slow your pace so as not to let the treacherous creak of the steps be your death sentence.
Now you feel your way across the corridor, from which flats lead off on both sides. Or rather: caves that were once flats. The doors have been broken out by the detonations, the windows are only gaping wounds. Only here and there, among the debris and shards, can you still make out the remnants of former cosiness.
You step into each flat entrance at gunpoint and then walk through the corridors. It is as if you were wandering through a cemetery at night, always aware that at any moment a ghost could rise from a grave and drag you down into its eternal night.
A cracking noise. You hold your breath – over there, in the niche between the overturned cupboard and the wall: Didn’t some¬thing move there? Isn’t there someone trying to reach for his gun and point it at you?
Just as you are about to fire the fatal shot, a ray of sunlight falls through the window wound – exactly on the person crouching back there who is obviously too weak to pick up his rifle.
The person lifts his head, he looks you straight in the eye, your eyes meet, they literally intertwine. For a brief moment you are no longer two separate beings, but a single existence with two faces connected by an invisible bond.
„Sergey?“ you ask incredulously.
„Pavel?“ the other asks back equally incredulously.
Slowly you walk towards the man crouching on the ground while lowering your rifle. When you reach the injured man, you put it aside and reach for the emergency kit with the bandages that you always carry with you when entering houses in danger of col-lapsing.
Without further ado, you tear open the blood-soaked shirt and press a gauze bandage onto the wound. As the other is shivering – perhaps from the cold, perhaps from fever – you take off your uniform jacket and put it around his shoulders.
Then you sit down next to him and take out the canteen with the vodka. As you hold it out to him, he hesitantly reaches for it and puts it to his mouth. Then you also take a sip.
Of course you have long since realised that the man next to you is not Sergey – just as you are not Pavel. And yet each of you is suddenly the lost friend from childhood for the other.
Titelbild /Title Image: Wilhelm Trübner (*Februar 1851 in Heidelberg; † 21. Dezember 1917 in Karlsruhe): Verwundeter französischer Soldat, 1871, Wounded French soldier. Deutsches Historisches Museum Berlin Der 19-jährige Wilhelm Trübner wurde durch die Einberufung seines Bruders im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 mit dem Kriegselend konfrontiert. In einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Weise malte er das Leid eines feindlichen Soldaten. / The 19-year-old Wilhelm Trübner was confronted with the misery of war when his brother was called up for service in the Franco-German War of 1870-71. In a manner unusual for the time, he painted the suffering of an enemy soldier.
Dimitri
This is the truth about war… I hope so.
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hgamma
Jeder Angriffskrieg
jeder Krieg
ein Hochverrat
gegen die gesamte Menschheit
damit wird
die unteilbare Menschenwürde
mit Füssen getreten
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