Aus: Die Ukrainische Apokalypse. Literarische Miniaturen / From: The Ukrainian Apocalypse. Literary Miniatures
Das bestialische Töten in der Ukraine gehört zu jenen Dingen, von denen man für gewöhnlich sagt, dass sie einen „sprachlos“ machen. Auf der anderen Seite bedingt gerade die Ungeheuerlichkeit der dort verübten Verbrechen, dass wir nicht dazu schweigen dürfen. So sind diese literarischen Miniaturen der Versuch, trotz allem etwas über das Unsägliche auszusagen.
The atrocious killings in Ukraine are among the things that are usually said to leave us „speechless“. On the other hand, the monstrous nature of the crimes committed there requires that we do not remain silent about them. So these literary miniatures are an attempt to speak about the unspeakable in spite of everything.
Fluchtkorridore: Erst zerbomben sie deine Stadt, dann erlauben sie ein paar Überlebenden großmütig die Flucht.
Vorsichtig tastet sich der Bus durch das Trümmermeer voran. Jeder Platz ist besetzt. Kinder schmiegen sich eng an ihre Mütter, dazwischen kauern ein paar Männer, die nach den letzten Tagen noch älter aussehen, als sie ohnehin sind.
Niemand sagt ein Wort. Es ist nichts zu hören als das Radio der Busfahrerin: Frontnachrichten, dazwischen Schlagermusik, ein Gruß aus einer anderen, unbeschwerten Welt.
Es ist kalt im Bus, eure Atemluft legt sich als gnädiger Schleier auf die Fenster. Du zögerst kurz, wischst ihn dann aber doch mit dem Ärmel deiner Jacke zur Seite und blickst hinaus.
Da vorne, der braune Trümmerhaufen – war das nicht einmal deine Schule? Und weiter hinten, der Schuttberg inmitten der größeren Steinblöcke – befand sich dort nicht der Marktplatz? Blickst du nicht geradewegs auf die Stelle, wo vor kurzem die neue Eisdiele aufgemacht hat? Auf den Ort, wo du im Sommer mit deinen Freundinnen mit dieser unverschämten Lebenslust dein Himbeereis geschleckt hast?
Du erinnerst dich noch genau, wie Polina im letzten Sommer dem Muskelmann mit den kurzen Shorts hinterhergepfiffen hat – und wie ihr, obwohl längst dem Teenie-Alter entwachsen, alle kreischend gelacht habt, als der Typ sich erstaunt zu euch umgedreht hat.
Wie unwirklich dir das jetzt alles vorkommt, jetzt, da von all den vielen Häusern nur noch ein einziger Trümmerberg übriggeblieben ist! Und was ist wohl aus deinen Freundinnen geworden?
Ein Schwindelgefühl steigt in dir auf. Rasch trittst du von dem Abgrund des Gedankens zurück. Nach Halt suchend, schließen sich deine Arme fester um die Tasche mit deinen Habseligkeiten. Du musstest sie mit in den Bus nehmen – im Kofferraum war kein Platz mehr.
„Nur das Nötigste einpacken“, hatte man euch ermahnt. Als würde sich das nicht von selbst verstehen! Als würdet ihr nicht wissen, dass eine Flucht kein Umzug ist!
Du hast ohnehin nie viel besessen. Es ist dir nicht schwergefallen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Und selbst wenn du mehr als das Allernötigste hättest mitnehmen können – du hättest es wahrscheinlich nicht getan.
Alles, was du besessen hast, war doch ein Teil deines bisherigen Lebens. Es hatte seine Funktion im Rahmen dieses Lebens – und dieses Leben musst du nun ja für immer hinter dir lassen. Du kannst es ebenso wenig mit dir nehmen wie die Dinge, die es ausgemacht haben. All die kleinen Kostbarkeiten, mit denen du deine Wohnung geschmückt hattest, wären anderswo doch nur wie Grabsteine, die dich an das untergegangene Leben erinnern würden.
Langsam weicht das Trümmermeer zurück – der Bus erreicht die Stadtgrenze. Im Schritt-Tempo passiert er den Checkpoint. Daneben stehen in einer Reihe die neuen Herren der Stadt, einer ein Klon des anderen. Manche nicken euch freundlich zu, als der Bus die Schranke passiert, andere tippen lässig gegen ihre Uniformmütze, einige winken euch sogar zum Abschied.
Erwarten sie etwa, schießt es dir durch den Kopf, dass du ihnen dankbar bist? Dankbar, dass sie, die deine Wohnung, dein Haus, deine Stadt, dein ganzes bisheriges Leben in Trümmer gelegt haben, sie, die deinen Mann an der Front wie Jäger bei einer Kaninchenhatz abschießen werden, dir die Gunst erweisen, die leere Hülle deiner physischen Existenz zu behalten?
English Version
Act of Mercy
Humanitarian corridors: First they lay waste to your city, then they generously allow a few survivors to escape.
Cautiously, the bus makes its way through the sea of rubble. Every seat is occupied. Children huddle close to their mothers, in between a few men who after the last few days look even older than they are anyway.
No one says a word. There is nothing to hear but the bus driver’s radio: front news, interspersed with pop music, a greeting from a distant, carefree world.
It is cold in the bus, your breath covers the window as a merciful veil. You hesitate briefly, then wipe it aside with the sleeve of your jacket and look out.
Over there, the brown heap of rubble – wasn’t that your school once? And further back, the mountain of debris amidst the larger blocks of stone – wasn’t that where the market place was? Aren’t you looking straight at the spot where the new ice cream parlour recently opened? To the place where you used to lick your rasp-berry ice cream with your girlfriends in summer with that un-abashed lust for life?
You still remember how Polina whistled at the muscle man with the shorts last summer – and how you all, although long out of your teens, laughed shriekingly when the guy turned to you in amazement.
How unreal all this seems to you now, now that of all the many houses only a single mountain of rubble is left! And what has ac-tually become of those with whom you licked the ice-cream?
A feeling of dizziness rises in you. Quickly you step back from the abyss of the thought. Searching for a foothold, your arms close tighter around the bag with your belongings. You had to take it with you on the bus – there was no space left in the boot.
„Pack only what is absolutely necessary“, you had been told. As if that didn’t go without saying! As if you didn’t know that an escape is not a move!
You never possessed much anyway. It was not difficult for you to separate the important from the unimportant. And even if you could have taken along more than the bare essentials – you probably wouldn’t have done it.
Everything you possessed was part of your life so far. It had its function within the framework of this life – and now you have to leave this life behind forever. Just as you can’t take it with you, you can’t take along the things that made up your life. All the little treasures with which you decorated your home would be like tombstones somewhere else, reminding you of the lost life.
Gradually, the sea of rubble recedes – the bus reaches the edge of the city. It passes the checkpoint at walking pace. Next to it you see the new masters of the city standing in a row, one a clone of the other. Some nod at the passengers in a friendly manner as the bus passes the barrier, others tap casually against their uniform caps, some even wave goodbye.
Do they, so it flashes through your mind, expect you to be grateful to them? Grateful that they, who have reduced your flat, your house, your city, your whole former life to rubble, they who will shoot down your husband at the front like hunters chasing rabbits, do you the favour of sparing the empty shell of your physical existence?
Bilder / Images: Christian Rohlfs (1849 – 1938): Die Vertreibung aus dem Paradies / The Expulsion from Paradise(1933); Wikimedia commons; Kathryn Avonson: Post-Apokalypse /apocalypse (Pixabay)
Eva
Sehr guter Text, der unter die Haut geht.
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