Die verborgene Kammer / The hidden chamber

Die Wendeltreppe, die du in deinem Kleiderschrank entdeckt hast, führt hinab in einen dunklen, fensterlosen Raum. Unten strömt dir ein modriger Geruch entgegen, wie in einem Vorratsraum, der lange nicht gelüftet worden ist, oder in einer vergessenen Gruft. Außer¬dem meinst du einen hohen Pfeifton zu vernehmen, der dich an den Flug des Novemberwinds über den abgeernteten Feldern erinnert.
Sofort spürst du, dass dies ein verbotener Ort für dich ist. Du fühlst dich wie ein Eindringling in ein Reich, aus dem du vor langer Zeit vertrieben worden bist. Eine unsichtbare Bedrohung geht von diesem Ort aus, als würde dich jemand aus dem Dunkel heraus belauern.
So schnell wie möglich möchtest du wieder zurück ans Licht. Schon umschließt deine Hand das Geländer der Wendeltreppe – da merkst du plötzlich, dass es in dem Raum gar nicht völlig dunkel ist. Ein dünner Lichtteppich breitet sich darin aus, wie ganz am Anfang oder ganz am Ende des Tages, wenn das Licht einem Niemandsland zwischen Tag und Nacht zu entströmen scheint.
Als du dich genauer umsiehst, entdeckst du in der hintersten Ecke des Raumes ein phosphoreszierendes Etwas, von dem ein ungleichmäßiges Leuchten ausgeht. Neugierig geworden, trittst du näher heran – und erkennst, dass es sich bei dem Etwas um einen leise wimmernden Säugling handelt. Er hat sich ganz in sich selbst zusammengerollt, als befände er sich noch im Mutterleib.
Unschlüssig verharrst du auf deinem Platz und starrst auf den schutzlosen Körper. Da hebt der Säugling auf einmal den Kopf und versenkt seine Augen in deinen. Du blickst in ein uraltes Gesicht, in dem die Windungen des Lebens sich in tiefen Furchen widerspiegeln und dessen Augen dich aus nachtweisen Höhlen begutachten.
Nun hält dich nichts mehr an diesem Ort. Obwohl du dir darüber im Klaren bist, dass du dich mit deiner überstürzten Flucht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machst, stolperst du die Wendeltreppe hinauf, verschließt den Kleider¬schrank hinter dir und strebst mit der Sicherheit eines Schlafwandlers deinem Bett entgegen. Dort legst du dich auf die Seite, machst die Augen zu und redest dir ein, alles nur geträumt zu haben.
Unglücklicherweise scheint jedoch bei dem Blick in die Au-gen des greisen Säuglings ein Funken von dessen Dasein auf dich übergesprungen zu sein. Jedenfalls fühlst du seitdem stets die Nacktheit unter deinen Kleidern, als wärest du eine Vogelscheuche, die mit ihrem löchrigen Umhang schutzlos den Streichen des Windes ausgesetzt ist. Und wenn du lächelst, hast du nun jedes Mal das Gefühl, in Tränen auszubrechen; denn dir scheint, dass deine Mundwinkel sich in Wahrheit zu einer Totenmaske verziehen.
Du weißt genau, dass nur ein erneuter Blick in die Augen des welken Säuglings dich von dem Fluch befreien könnte, der offenbar auf dir lastet. Doch wie sollst du eine Fähre finden, die dich in das Traumland übersetzen kann? Und was, wenn du dem Blick in die Untiefen dieser Augen auch beim zweiten Mal nicht standhältst?

The hidden chamber

The spiral staircase you discovered in your wardrobe leads down into a dark, windowless room. At the bottom, a musty smell is wafting towards you, like in a storeroom that has not been aired for a long time, or in a forgotten crypt. Furthermore, you have the impression of hearing a high-pitched whistling sound that reminds you of the flight of the November wind over the harvested fields.
Immediately you realise that this is a forbidden place for you. You feel like an intruder in a realm from which you were expelled long ago. An invisible threat emanates from this place, as if someone was watching you from the darkness.
As quickly as possible, you want to return to the light. Your hand is already gripping the banister of the staircase – but then you suddenly realise that the room is not completely dark. A thin carpet of light spreads out inside, like at the very beginning or the very end of the day, when the light seems to flow out of a no-man’s land between day and night.
As you look around more closely, you discover a phosphorescent object in the very back corner of the room, from which an unsteady glow radiates. Curious, you approach it – and realise that it is a quietly whimpering infant. It has curled up completely on itself, as if it were still in its mother’s womb.
Indecisively you remain at your place and stare at the helpless body. Just then, the infant suddenly lifts its head and immerses its eyes in yours. You look into an ancient face, in which the twists and turns of life are reflected in deep furrows and whose eyes gaze at you from dark, thoughtful caves.
Now there is nothing to keep you in this place. Although you are aware that your hasty escape makes you guilty of failing to render assistance, you stumble up the spiral staircase, lock the wardrobe behind you and head for your bed with the certainty of a sleepwalker. There you lie down on your side, close your eyes and try to convince yourself that it was all just a dream.
Unfortunately, however, a spark of the old infant’s existence has jumped over to you when you looked into its eyes. In any case, you constantly sense the nakedness under your clothes since then, as if you were a scarecrow, exposed to the blows of the wind with your cloak full of holes. And every time you smile, you feel as if you were bursting into tears – it seems to you that the corners of your mouth are actually twisted into a mask of death.
You know very well that only another look into the eyes of the withered infant could free you from the curse that apparently weighs on you. But how can you find a ferry to take over to the dreamland? And what if you cannot withstand the look into the depths of these eyes even the second time?

Bilder: Wendeltreppe im Londoner Monument Tower, 2005; Geograph Project, Oast House Archive; Michael Gaida: Lost place (Pixabay)

2 Antworten auf „Die verborgene Kammer / The hidden chamber

  1. Renate

    Der Text geht unter die Haut. Keller, unter der Erde, Brunnen … sind beliebte Bilder in Träumen und Märchen. Sich in die Abgründe begeben, um die Wahrheit zu erkennen und nicht mehr vor ihr davonzulaufen …

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