Die hungrigen Geister und der befreite Geist / The hungry spirits and the liberated spirit

Fünftes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Boris Grebenschtschikow: Kladbischtsche

English Version

Geist und Materie sind wie ein altes Ehepaar: Immer streben sie voneinander weg, und doch kann der eine nicht ohne die andere sein.

Wer meditiert, lernt sich selbst neu kennen. Dies kann sich sowohl auf den Körper als auch auf den Geist beziehen.
Eher um körperliche Selbsterkundung geht es etwa beim Autogenen Training. Indem man mittels spezieller Techniken in sich hineinhört, bekommt man hier ein Gefühl für das Rauschen des Blutes und das Strömen des Atems, für die Wärme und die Kälte, die von beiden ausgehen kann.
Bei klösterlichen Exerzitien steht dagegen die geistige Selbsterkundung im Vordergrund. Durch eine kontemplative Versenkung ins eigene Ich soll das Verhältnis zu sich selbst, zur Welt, zu den Mitmenschen und zu Gott bzw. dem Universum ergründet, überdacht und gegebenenfalls neu justiert werden.
Es gibt allerdings auch Formen von Meditation, die gerade dazu dienen, das eigene Ich hinter sich zu lassen. Hierbei geht es darum, das Gebundensein an die Materie im Geiste zu überwinden und so frei zu werden für die Erfahrung des Eingebundenseins in das Ganze des Seins bzw. der Schöpfung.
Diese Art von Meditation ist grundlegend für alle Arten von Mystik, unabhängig von den jeweils zugrunde liegenden religiösen Systemen. Von zentraler Bedeutung ist sie für fernöstliche Religionen, in denen das Ziel des Lebens darin gesehen wird, den Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen und in das Nirwana einzutreten. Dieses ist dabei zum einen mit der Herauslösung aus dem Kreislauf des ewigen Werdens und Vergehens (dem Samsara) assoziiert. Zum anderen ist damit aber auch ein Zustand geistiger Loslösung von dem materiellen Sein verbunden, wie er etwa durch eine Überwindung von Habgier, Neid und generell des Egozentrismus zu erreichen ist.
An diese Gedanken knüpft erkennbar auch der russische Dichter und Musiker Boris Grebenschtschikow – der sich seit Anfang der 1990er Jahre intensiv mit fernöstlichem Gedankengut beschäftigt – in seinem Lied Kladbischtsche (Friedhof) an. Es handelt von einem Yogi, der irgendwo im Himalaya mit einem Blasrohr aus Knochen hungrige Geister herbeiruft. Diese trinken daraufhin sein Blut und essen seinen Körper auf, so dass er, aller materiellen Fesseln ledig, frei wird für die Vereinigung mit dem Ganzen des Seins.
In Teil 2 seines Liedes (Strophe 4 und 5) bezieht Grebenschtschikow diese Parabel auf die Befreiung des Geistes allerdings auch auf seine eigene Gegenwart. Aus den hungrigen Geistern des asiatischen Bergfriedhofs werden dabei „maßlose Schurken“. Auch sie saugen die Menschen aus, doch werden sie dabei ebenso wenig satt wie ihre Opfer dadurch eine neue Stufe geistiger Freiheit erlangen. Dies entspricht im Übrigen der traditionellen Vorstellung der ewig hungernden Geister im Buddhismus. Als Wesen, die mit ihren viel zu kleinen Mündern und viel zu engen Hälsen niemals ihre dicken Bäuche füllen können, spiegeln sie eben jene materialistische Orientierung wider, die Grebenschtschikow ins Bild der unersättlichen Ausbeuter fasst.
1995 veröffentlicht, lässt das Lied an den russischen Raubtierkapitalismus im Anschluss an das Ende der Sowjetunion denken. Das Aussaugen symbolisiert folglich in diesem Fall keinen geistigen Reinigungsprozess, sondern spielt, ganz im Gegenteil, auf eine fortgesetzte materielle Abhängigkeit an. Diese bezieht sich dabei durchaus auch auf die Aussaugenden, die mit ihrer Gier nach Reichtum das geistige Ziel ihres Lebens verfehlen – und in diesem Sinne nie „satt“ werden. Vor allem aber rauben sie mit dieser Gier auch anderen Menschen die Lebensgrundlage und verhindern so, dass diese nach geistiger Erfüllung streben können. Denn diese ist eben nur vom Boden einer hinreichenden materiellen Grundversorgung aus zu erreichen.
Grebenschtschikows Kritik hat natürlich nicht nur für die kaptilastischen Auswüchse im Russland der 1990er Jahre Gültigkeit. Sie lässt sich vielmehr auch auf alle anderen Gesellschaften beziehen, in denen soziale Ungerechtigkeit und die Orientierung an der Wachstumsideologie das Streben nach geistiger Vervollkommnung erschweren.

Boris Grebenschtschikow mit der Band Aquarium: Kladbischtsche; aus: Navigator (1995)

Albumfassung

Live (unplugged, 1995)

Übersetzung

Mehr Musik aus Russland: Putinistan und Russkij-Rockistan – Zur Kontinuität der musikalischen Gegenkultur in Russland

English Version

The hungry spirits and the liberated spirit

5th door of the musical Advent calendar: Boris Grebenshchikov: Kladbishche (Graveyard)

Spirit and matter are like an old married couple: They always strive away from each other, and yet one cannot be without the other.

Meditating is a means of getting to know oneself in a different way. This can refer to the body as well as to the mind.
Autogenic training, for example, is more about physical self-exploration. By listening inside oneself with the help of special techniques, a greater sensitivity to the rushing of the blood and the flow of the breath can be achieved, to the warmth and cold that can emanate from them.
Monastic Exercises, on the other hand, focus on spiritual self-exploration. In this case the contemplative immersion in one’s own self is a means of exploring and reconsidering the relationship to oneself, to the world, to one’s fellow human beings and to God or the universe.
However, there are also forms of meditation that serve precisely to leave one’s own self behind. The aim here is to spiritually overcome the attachment to material life and thus become free for the spiritual experience of being part of the entire creation.
This kind of meditation is fundamental to all kinds of mysticism, regardless of the underlying religious systems. It is of central importance for the Far Eastern religions, where the goal of life is to break through the cycle of rebirths and reach the Nirvana. This is associated, on the one hand, with the release from the cycle of eternal becoming and passing away (the so-called „Samsara“). On the other hand, it is also linked to a state of spiritual detachment from material existence, as can be achieved by overcoming greed, envy and egocentrism in general.
These thoughts are also recognisably taken up by the Russian artist Boris Grebenshchikov – who has been intensively engaged with Far Eastern ideas since the early 1990s – in his song Kladbishche (Graveyard). It is about a yogi who summons hungry spirits somewhere in the Himalayas with a blowpipe made of bones. Thereupon the spirits drink his blood and eat his flesh, so that his own spirit, free of all material fetters, becomes free for the union with the whole of being.
In part 2 of his song (verses 4 and 5) Grebenshchikov relates this parable about the liberation of the spirit also to his own present. The hungry spirits of the Asian mountain cemetery thereby turn into „excessive scoundrels“. They, too, suck the people dry, but in doing so, they are just as little satisfied as their victims attain a new level of spiritual freedom. This, by the way, corresponds to the traditional idea of eternally starving spirits in Buddhism. As beings who, with their mouths much too small and necks much too tight, can never fill their fat bellies, they reflect precisely the materialistic orientation that Grebenshchikov captures in the image of the insatiable exploiters.
Released in 1995, the song reminds us of Russian predatory capitalism after the end of the Soviet Union. In this case, therefore, the sucking out does not symbolise a spiritual purification process, but, on the contrary, alludes to a persistent material dependence. On the one hand, this refers to the scoundrels who, with their greed for wealth, miss the spiritual goal of their lives – and in this sense never become „satisfied“. Above all, however, they rob other people of their livelihood with their greed and thus prevent them from striving for spiritual fulfilment – which can only be achieved on the basis of the satisfaction of fundamental needs.
Of course, Grebenshchikov’s criticism is not only valid for the captilastic excesses in Russia in the 1990s. It can also be applied to all other societies in which social injustice and the orientation towards the ideology of growth make it difficult to strive for spiritual fulfilment.

Boris Grebenshchikov with the band Akvarium (Aquarium): Kladbishche

Lyrics and Song

Live (unplugged, 1995)

Translation

Bildnachweis / Picture credit: DarkmoonArt: Friedhof / graveyard; Hintergrund: RahulSakat: Abstrakt / abstract (Pixabay)

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