Der Winter: Stillstand und Verwandlung / The winter: stagnation and transformation

3. Türchen des musikalischen Adventskalenders 2020: Mariee Sioux: Wizard flurry home (Zauberschauerhaus)

English Version

Im Winter kommt das äußere Leben zum Stillstand. Gerade dadurch öffnet sich für uns jedoch das Tor zu innerer Verwandlung.

Als „das Andere des Lebens“ ist der Winter immer auch der Ort des Todes. Gleichzeitig lässt sich seine Andersartigkeit aber auch im Sinne eines Gegenentwurfs verstehen, einer „Gegenwelt“, in der all das möglich erscheint, was im realen Leben undenkbar ist. Hierzu lädt der Winter selbst ein, indem er zwar de facto für die totale Abwesenheit des Lebens steht, in seinem konkreten Erscheinungsbild aber das Leben nachzuahmen scheint: Schneeverwehungen türmen die Eismassen zu bizarren Landschaften auf, Eiszapfen tragen ihren Namen, weil sie an die Zapfen von Nadelbäumen erinnern, Raureif überzieht das Land wie mit einer Decke aus glitzernden Eisblüten.
Eben dadurch, dass der Winter das Leben nachzubilden scheint, es dabei aber gleichzeitig verfremdet, bietet er die Grundlage für Träume von einer anderen Welt. Dies gilt erst recht, wenn er die Welt mit einem Schleier aus Schneeflocken überzieht. Durch die Verbergung, Verwandlung bzw. „Fragmentarisierung“ der gewöhnlichen Erscheinungen im Schneeflockentaumel ermöglicht er dann eine Loslösung von Letzteren. Er lädt damit ein zu einem Zustand kontemplativer Versenkung, der die Grundvoraussetzung aller mystischen Erfahrung ist.
Hierauf beruht auch der Song Wizard flurry home (Zauberschauerhaus) der kalifornischen Singer-Songwriterin Mariee Sioux. Ihr Vater ist ein Mandolinenspieler polnisch-ungarischer Herkunft, der sie stellenweise auch musikalisch begleitet. Ihre Mutter hat spanische Wurzeln, ist jedoch auch in der Volksgruppe der Paiute verwurzelt. Musikalisch drückt sich dies bei der 1985 geborenen Sängerin u.a. in der Einbeziehung traditioneller indianisch-mexikanischer Flötenklänge in ihre Musik aus.
Inhaltlich verweist der Song insbesondere auf die kultischen Tänze der Paiute, in denen mithilfe ritueller Trommelklänge Trancezustände erreicht werden sollten. Ende des 19. Jahrhunderts erhielt diese Form der Musik in der so genannten „Geistertanzbewegung“ auch einen politisch-revolutionären Sinn: Durch die Tänze sollten Visionen bewirkt werden, die den Tanzenden den Weg zur Befreiung von der weißen Besatzungsmacht weisen sollten. Hierauf spielt der Song von Mariee Sioux insofern an, als er das „Zertanzen“ der Welt durch einen trommelnden Zauberer bzw. Medizinmann evoziert. Die hierdurch zu erlangende Befreiung ist allerdings nicht – wie von der Geistertanzbewegung erhofft – eine äußere, sondern spielt sich auf der inneren Ebene ab, im Sinne einer individuellen Initiation in die mystische Welt der Vorfahren.
Deutlich wird dies etwa in der symbolischen Bedeutung der Zahl Fünf in dem Gedicht. Diese steht hier offenbar für Vervollkommnung bzw. Vervollständigung (im Sinne der fünf Finger einer Hand). Damit ist auch das im Lied thematisierte „Entzweibrechen“ des Herzens nicht im Sinne eines zerstörerischen Auseinanderbrechens, sondern im Sinne der Entdeckung einer anderen, bislang unbekannten Seite des eigenen Daseins zu verstehen. Deren zentrales Kennzeichen wäre dabei die Aufhebung der Vereinzelung und die Einstimmung in den einen, alles durchdringenden Atem des Seins, wie ihn der alles umfangende Schneeschauer andeutet.
In Verbindung mit der psychedelischen Musik vermittelt der assoziative Text eine Ahnung von eben jener „zauberhaften“ Stimmung, auf die der Titel des Liedes verweist. Auch die sich auflösenden Sätze, durch die die Klangqualität der Worte gegenüber der semantischen Ebene in den Vordergrund tritt, passen gut zu der beschriebenen Situation einer in das Mosaik tanzender Flocken zerfallenden Welt.
Angesichts des assoziativen Stils des Liedes scheint eine Annäherung an den Sinn des Textes nur durch eine freie Übertragung möglich, die der lautmalenden Sprache des Originals mit semantischen und onomatopoetischen Entsprechungen nahe zu kommen versucht.

Mariee Sioux: Wizard flurry home; aus: A Bundled Bundle of Bundles (2006)

Liedtext und Song

Freie Übertragung:

 Zauberschauerhaus
  
 Tanze, Schnee, tanze,
 Schnee, Schneeschauerhaus,
 ja, tanze, Schnee, tanze,
 Schnee, Schneeschauerhaus.
  
 Spinn uns Gold, oh Zauberer,
 schwenke deinen Zauberstab
 Zauberer, zerstoß die Welt
 mit deinem Trommelstab,
 Zauberer, spinn uns Gold,
 schwenke deinen Zauberstab
 Zauberer, zerstoß die Welt
 mit deinem Trommelstab,
 mit deinem Trommelstab und
 tanze, tanze im Schnee,
 im Schnee, im Schneeschauerhaus.
  
 Und Winter, Liebeshalt,
 kröne, kröne, kröne deine Brüder.
 Winter, Liebesschnee,
 kröne, kröne, kröne deine Berge.
 Winter, Liebeshalt,
 kröne, kröne, kröne deine Mütter.
 Winter, Liebesschnee,
 kröne, kröne, kröne deine Berge
 und tanze, tanze im Schnee,
 im Schnee, im Schneeschauerhaus.
 im Schnee, im Schneeschauerhaus.
  
 Und im Kokon des Bettes
 bitte ich dich um Vergebung,
 im Kokon des Bettes
 bitte ich dich um Vergebung,
 Monsunkokon
 bricht, bricht, bricht durchs Dach
 Monsunkokon
 bricht, bricht, bricht mein Herz entzwei
 in zwei, zwei, in zwei Teile,
 und es waren zwei, es waren fünf,
 und alles war so neu, neu, so neu,
 es war so neu, neu, neu,
 neu, neu, so neu.
  
 Und braune, braune,
 oh braune Knie, weiße Bienen,
 summ, summ, summ, sind fort.
 Braune Knie, weiße Bienen,
 summ, summ, summ, sind fort.
 Könntet ihr euch bitte
 in Honig verwandeln?
 Könntet ihr euch bitte
 in Morgen verwandeln?
 Könntet ihr bitte
 zurück-, zurück-, zurückehren morgen
 und unseren Tanz in Eis verwandeln?
 Oh, friert unseren Tanz unter den Teichen ein
 und verwandelt unseren Tanz in Eis!
 Oh, friert unseren Tanz unter den Teichen ein und
 lasst unseren Tanz zu Schnee-oh-Engelkissen gefrieren,
 lasst unseren Tanz zu Schnee-oh-Engelkissen gefrieren.
 Unser Tanz wird gefrieren
 zu Schneeengelkissen. 

Mehr Winterlieder:

Musikalische Winterreise. Der Winter: Untergang oder Utopie?

English Version

3rd Door of the musical Advent calendar: The winter: stagnation and transformation. Mariee Sioux: Wizard flurry home

In winter the outer life comes to a standstill. But it is precisely this what opens the door to inner transformation for us.

As the other side of life, winter is the place of death. At the same time, however, its otherness can be understood in the sense of a counter-concept, a „counter-world“ in which everything that is unthinkable in real life seems possible. The winter world itself invites us to such thoughts. Although winter stands for the total absence of life, it seems to imitate life. Snow drifts pile up the ice masses to bizarre landscapes, icicles remind us of the cones of conifers, hoarfrost covers the land as if with a blanket of glittering ice flowers.
It is precisely because winter seems to imitate and alienate life at the same time that it provides the basis for dreams of another world. This is all the more true when it envelops the world in a veil of snowflakes. By hiding, transforming or „fragmenting“ the usual appearances of things in a snowflake whirl, winter enables us to detach ourselves from our habitual view of the world. It thus opens our mind to a state of contemplative contemplation, which is the fundamental precondition of all mystical experience.
This is also the basis of the song Wizard flurry home by the Californian singer-songwriter Mariee Sioux. Her father is of Polish-Hungarian origin and sometimes accompanies her with his mandolin. Her mother has Spanish roots, but also belongs to the Paiute people. The artist, born in 1985, expresses this musically by integrating traditional Indian-Mexican flute sounds into her music.
With regard to content, the song refers in particular to the cultic dances of the Paiute, in which a state of trance was to be achieved with the help of ritual drum sounds. At the end of the 19th century, this form of music also took on a political-revolutionary meaning in the so-called „ghost dance movement“. Here the dances were intended to bring about visions that would show the dancers the way to liberation from the white occupying power.
Mariee Sioux’s song alludes to this insofar as it evokes a „dancing into pieces“ of the world by a drumming magician or medicine man. The liberation to be attained through this, however, is not – as hoped for by the ghost dance movement – an external one, but takes place on the inner level, in the sense of an individual initiation into the mystical world of the ancestors.
This becomes clear, for example, in the symbolic meaning of the number five in the poem. It obviously stands for perfection or completion (in the sense of the five fingers of a hand). Thus the „breaking in two“ of the heart the text speaks of is not to be understood in the sense of a destructive breaking apart, but in the sense of discovering another, hitherto unknown side of one’s own existence. Its central characteristic would be the abolition of isolation and the unison with the one, all-pervading breath of life, as indicated by the all-encompassing snow shower.
In connection with the psychedelic music, the associative text conveys an idea of precisely that „magical“ mood to which the title of the song refers. The dissolving sentences, through which the sound quality of the words comes to the fore in relation to the semantic level, also fit well with the described situation of a world falling apart into the mosaic of dancing snowflakes.

Mariee Sioux: Wizard flurry home; from the album A Bundled Bundle of Bundles (2006)

Lyrics und Song

Live

Bildnachweise: Alexej Sawrassow (1830 – 1897): Winterlandschaft (winter landscape) ; Kunstmuseum Iwanowo; Winterweg ( winter way) (privat)

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