Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 11
Sonntag, 16. Juli
Werden mir die Dinge überhaupt klarer, indem ich sie aufschreibe? Eher habe ich den Eindruck, dass das Gegenteil der Fall ist. Was mir am deutlichsten vor Augen tritt, sind die Lücken in meiner Erinnerung, durch die die Ereignisse noch unverbundener nebeneinander stehen, als ich ursprünglich angenommen hatte. Vielleicht wäre es am ehrlichsten, sich bei der Darstellung überhaupt nicht um ein geordnetes Nacheinander zu bemühen. Dabei täusche ich mir doch nur kausale Zusammenhänge vor, die es de facto gar nicht gibt!
Andererseits – was hätte es für einen Sinn, die einzelnen Episoden in der gleichen chaotischen Reihenfolge aufzuschreiben, in der sie mir durch den Kopf schießen? Oder liegt auch darin eine Logik, die mir nur bislang verborgen geblieben ist?
Letztlich ist das Bemühen um eine chronologische Aneinanderreihung der einzelnen Geschehnisse aber zumindest ehrlicher. Schließlich kann ich nur so feststellen, an was ich mich überhaupt noch erinnere und wo die Erinnerung aussetzt. Wahrscheinlich sind gerade diese Erinnerungslücken für ein tieferes Verständnis meiner Probleme von besonderer Bedeutung.
Im Grunde ist das hier also nur die Vorarbeit, auf der die spätere Analyse aufbauen müsste. Auch sollte ich bei der Rekonstruktion der Ereignisse vielleicht weniger dem nachspüren, was ich seinerzeit gedacht habe. Wichtiger ist es womöglich, herauszufinden, warum ich an manches gerade nicht gedacht habe.
Nehmen wir zum Beispiel den Morgen, an dem ich mich, getrieben von einem mir selbst damals noch unverständlichen inneren Aufruhr, in ein Café geflüchtet hatte. Interessant ist doch, dass ich dort den Gedanken an die Arbeit vollständig verdrängt hatte. Dabei war das ein ganz normaler Werktag, an dem ich schon seit über einer Stunde im Büro hätte sein müssen. War demnach mein nächtlicher Ausflug nichts weiter als eine unbewusste Flucht vor den Belastungen des Alltags?
Wenn allerdings mein gesamtes damaliges Tun auf einer Art von Vermeidungsverhalten beruht haben sollte, so war dieses zumindest unvollständig. Denn eins steht fest: Ins Büro hätte ich an jenem Tag auf keinen Fall gehen dürfen. Der Schreck, der mir in die Glieder fuhr, als mein Blick beim Verlassen des Cafés auf die Datumsanzeige der Digitaluhr fiel, war ja auch ganz unverständlich. Schließlich wird niemandem gleich gekündigt, wenn er sich mal für einen Tag krank meldet!
Natürlich hätte man mir eine Krankmeldung am Morgen nach dem Betriebsausflug – noch dazu an einem Freitag – nie und nimmer abgenommen. Aber alle Unannehmlichkeiten, die mir daraus erwachsen wären, wären doch ganz unbedeutend gewesen im Vergleich zu der Katastrophe, die durch meinen überstürzten Aufbruch ins Büro über mich hereingebrochen ist. Wenn schon mein Bewusstsein nicht richtig funktioniert, hätte doch wenigstens mein Unterbewusstsein ganze Arbeit leisten müssen!
Nati
Auch diesen Text habe ich gern gelesen. Mir gefällt der Wechsel von Reflexion und Erinnerungskonstrukion sehr.
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