Eine Flaschenpost vom Literaturplaneten

Morgen beginnt auf LiteraturPlanet ein kleines literarisches Experiment: Wir veröffentlichen den ersten Teil von Ilka Hoffmanns Roman Der Schattenhändler als Online-Tagebuch. Das Werk bietet sich dafür an, weil es in Tagebuchform geschrieben ist, wurde aber dennoch für die neue Veröffentlichungsform behutsam überarbeitet. Die Einträge zu den einzelnen Tagen werden sukzessive freigeschaltet.

Eröffnet wird das Projekt standesgemäß durch eine literarische Einleitung. Sie mag manchem etwas kryptisch erscheinen. Wer jedoch den Schleier der Verfremdung lüftet, wird dadurch vielleicht eine Ahnung von der Seelenlandschaft auf dem Literaturplaneten erhalten.

Eine Flaschenpost vom Literaturplaneten

Das Leben als Literaturplanetarier ist die meiste Zeit über recht einsam. Auf unserem Planeten sitzen wir am Strand des unermesslichen Literarischen Meeres und lauschen dem mal stürmischeren, mal sanfteren Rhythmus seiner Wellen.

Manchmal übertragen wir dann das, was uns das Meer erzählt, in Worte. Und mitunter geschieht es auch, dass wir daraus eine Flaschenpost machen, die wir wiederum dem Meer übergeben. So schließt sich der Kreislauf aus Lauschen, Niederschrift und Wiedereintauchen des Erlauschten in das flüsternde Schweigen der Wellen.

Vieles nimmt der Ozean schlicht in sich auf und begräbt es gnädig in seinen alles vergebenden Armen. Manches trägt er aber auch weiter bis zum Horizont, wo er es in die Weite des Universums entlässt. So geschieht es zuweilen, dass eine Flaschenpost (oder auch nur die Scherbe einer solchen) von unserem Planeten in andere, weit entfernte Galaxien eintritt, wo sich dann Wesen, deren Aussehen und Seelenleben wir uns nur erträumen können, über die Botschaften aus unserer, ihnen ganz fremden Welt beugen.

Auch das Umgekehrte ist schon vorgekommen. Von Zeit zu Zeit stranden auch Nachrichten aus anderen Galaxien am Strand unseres Meeres. Dann ist es an uns, unsere Köpfe staunend über die seltsamen, oft genug ganz unglaublich scheinenden Nachrichten zu beugen.

So ist uns beispielsweise zu Ohren gekommen, dass es auf anderen Planeten Wesen gibt, die ihre Textbotschaften nicht per Flaschenpost verbreiten, sondern in Form zusammengehefteter Seiten, die sie zwischen zwei festere Deckel klemmen. Diese Botschaften werfen sie auch nicht zurück ins Literarische Meer, sondern verbreiten sie über spezielle Orte, an denen es eine Vielzahl derartiger, von ihnen als „Bücher“ bezeichneter Produkte gibt.

Es soll sogar vorkommen, dass die Verfasser dieser Botschaften eindeutig als solche identifizierbar sind. Für uns, die wir unsere Botschaften per Flaschenpost verbreiten, ist das ganz unvorstellbar. So, wie wir nicht wissen können, wen die Flaschenpost erreicht, wird auch kein Empfänger je erfahren, von wo und von wem die Nachricht ins Meer geworfen worden ist.

Auf jenem anderen Planeten aber sollen die Verfasser der Botschaften, so heißt es, ihre Nachrichten mitunter sogar selbst vortragen. Für uns wirft dies die Frage auf, wozu sie dann überhaupt etwas aufschreiben. Wie um die Notwendigkeit dieses Aktes der Niederschrift zu betonen, bezeichnet man derartige Reisende in Sachen Textbotschaften in jener fernen Welt jedoch ausdrücklich als „Schriftsteller“.

Uns kommt das alles ganz exotisch vor. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – haben wir beschlossen, uns auch einmal an einem solchen außergalaktischen Textverbreitungssystem zu versuchen.

Natürlich ist das Ganze ohne Resonanz geblieben. Wer sollte sich auch der Mühe unterziehen, sich die viel zu schweren, viel zu voluminösen Seitensammlungen zu beschaffen? Es ist doch viel bequemer, einfach auf die nächste Flaschenpost zu warten. Außerdem ist es auch viel einfacher, sich mit deren Botschaften vertraut zu machen. Sobald ein Finder die Flasche öffnet, ist ihm der Flaschengeist zu Willen und hilft ihm dabei, die Botschaften so auf ihn wirken zu lassen, wie es ihm beliebt. Dadurch wird die fremde Botschaft – sofern man sich auf sie einlassen möchte – sehr schnell zu einem Teil des eigenen Geistes.

Und was soll eigentlich interessant daran sein, mit dem Verfasser der Botschaft in Kontakt zu treten? Es handelt sich bei ihm doch immer nur um eine Art Vermittler, ein Medium, das die erlauschten Botschaften des unergründlichen Literarischen Meeres weiterverbreitet.

Einige sehr alte Literaturplanetarier vertreten die Ansicht, dass es auch bei uns einmal eine Zeit gegeben habe, in der Textbotschaften so verbreitet wurden wie auf dem Planeten aus der fernen Galaxie. Dies muss dann allerdings in einer sehr lange zurückliegenden Vergangenheit gewesen sein, fast schon in prähistorischer Zeit. Den meisten von uns kommt dies jedenfalls ebenso phantastisch vor wie die fast schon mythologische Epoche der Barden, die die Botschaften des Meeres angeblich nicht niedergeschrieben, sondern singend weitergetragen haben.

Einmal ist an unserem Strand sogar ein Exemplar jener extragalaktischen Textkultur angespült worden. Außen fühlte es sich ganz hart an, innen raschelte es wie unter unseren Palmen, wenn der Wind in ihrem Blätterdach flüstert. Wir haben das Exemplar eingehend studiert und sogar Repliken angefertigt, für den Fall, dass mehrere Personen gleichzeitig den Wunsch verspüren sollten, sich damit zu befassen. Aber das ist natürlich nicht geschehen. Die Repliken liegen noch immer so unberührt in unseren Felsenhöhlen wie am ersten Tag.

So haben wir uns dazu entschieden, die fremde Textbotschaft auf die in unserer Kultur übliche Weise zu verbreiten: per Flaschenpost. Das einzige Problem dabei war, dass die Botschaft sich als zu umfangreich erwies, um sie in einer einzigen Flasche unterzubringen. Daher haben wir sie auf mehrere Flaschen aufgeteilt, die wir nun eine nach der anderen dem alles verratenden und alles verschweigenden, alles verbreitenden und alles verbergenden Literarischen Meer übergeben.

 

 

Bild: Jonny Lindner: Flaschenpost (Pixabay)

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