Föhn

Mit der Unerbittlichkeit eines Scherenschnitts, in den urplötzlich Blut einschießt, blecken die Gebirgskämme dich an. Du möchtest dich abwenden, aber ein unabänderliches Geschick kettet dich an deinen Platz: Du bist der Atlas, der die Welt zu tragen hat, schmerzhaft lastet ihr Gewicht auf deinem Haupt.

Während dein Blick sich in dem Gitterwerk der Bäume verfängt, spürst du, wie etwas Fremdes in dich eindringt, ein brennender Wurm, der sich unaufhaltsam durch deine Adern schlängelt. Wenn du an deine Stirn fasst, kannst du das Zucken seiner Schwanzspitze ertasten.

Nicht lange, und du siehst die Welt mit den Augen der Schlange in dir. Mit der Klarheit eines Fiebernden erkennst du: Dein Nachbar ist von einer ebensolchen Schlange bewohnt, auch sein Blick ist verdüstert von dem verdächtigen Zucken unter seiner Stirn. Sofort begreifst du, was das bedeutet: Er oder du! Jetzt, nachdem einer den anderen erkannt hat, ist für euch beide kein Platz mehr auf dieser Welt.

Als du ins Haus zurückirrst, zeigen alle Spiegel dir das Bild deines Nachbarn. Einer Windung des Wurms in deinen Adern folgend, zerschlägst du alles Glas, das du zu greifen bekommst. Dann schulterst du dein Bündel und entschwindest in die Wildnis. Mit märtyrerhafter Entschlossenheit wirfst du dich in die Arme der Windsbräute, die sich schon unheilvoll am Horizont versammeln.

English Version

Foehn

In the evening you pause under the giant shadow of the mountain ridges. You see them staring at you with the implacability of a silhouette suddenly animated by a gush of blood.
You want to turn away, but an unchangeable destiny chains you to your place: you are Atlas, you have to carry the world, its burden weighs painfully on your head.
As your gaze becomes entangled in the latticework of the trees, you feel something alien invade you, a burning worm that winds inexorably through your veins. When you touch your forehead, you can sense the tip of its tail twitching.
At the same moment, you see the world through the eyes of the snake within you. With the lucidity of someone caught in a fever, you realise: your neighbour is inhabited by just such a snake, and his gaze is darkened by the same suspicious twitching under his forehead.
Immediately you understand what this means: it’s either him or you! Now that one has recognised the other, there is no place for both of you in this world.
When you stumble back into the house, all mirrors reflect the face of your neighbour. Following a twist of the worm in your veins, you smash all the glass you can grab.
Then you shoulder your bundle and disappear into the wilderness. With the determination of a martyr, you throw yourself into the arms of the wind brides who are already gathering ominously on the horizon.

Bild: Frans S. Sonnegger: Föhnmauer

3 Antworten auf „Föhn

  1. Pingback: Der Traum als Politikum | rotherbaron

  2. Pingback: Empfohlenes #44 | Es wird Zeit, dass es Zeit wird.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..